Der Gouverneur Alckmin lies trotz Notstand das Wasser nicht rationieren. Im Südosten Brasiliens sind die Sommer in der Regel heiß und feucht. Die Regenzeit ist wichtig für Landwirtschaft, Natur und natürlich für die Wasserressourcen. Nur ist seit einigen Jahren kein Verlass mehr auf den Regen, und die Wasserspeicher in São Paulo haben einen historischen Tiefstand erreicht.
Nicht nur, dass die Wasserkrise für die Bevölkerung ein ernstzunehmendes Problem darstellt, die Situation ist zu einem politischen Spielball geworden. Eine Rationierung des Wassers ist für die regionale Regierung dabei kein Thema. Die Millionenmetropole São Paulo und zahlreiche andere Städte des Gliedstaates hatten diesen Sommer einen Wasserengpass wie nie zuvor. Die Wasserversorgung wird von fünf großen Stauseen im Norden des Gliedstaates, dem System Cantareira, gewährleistet. Das System Cantareira versorgt neun Millionen Menschen in der Region von São Paulo und weitere fünf Millionen im Inneren des Gliedstaates. Durch den Mangel an Regen über die letzten Jahre ist das System Cantareira praktisch ausgetrocknet. Seit Dezember letzten Jahres hat es so wenig Niederschlag gegeben wie zuletzt 1930. Während es in der Regenzeit beinahe überläuft, ist jetzt nur noch ausgedörrter und aufgerissener Boden zu sehen. Im Becken sind nur noch Rinnsale von Wasser zu entdecken, die eher Pfützen als Seen gleichen. Im März wurde ein historischer Tiefstand von knapp neun Prozent erreicht, und alleine im Februar hat sich das Niveau um sechs Prozent gesenkt.
Für den größten Wasserversorger, die zuständige Companhia de Saneamento Básico do Estado de São Paulo (Sabesp), der etwa 70 Prozent der 40 Millionen Bewohner versorgt, ist das kein Grund zur Sorge, denn es wird munter weiter Wasser geschöpft. Die Forderung der Nationalen Agentur für Wasser (Agência Nacional de Águas), eine Rationierung des Wassers zu lancieren, wurde ignoriert. Die Agentur forderte, den Wasserzufluss aus dem Cantareira-System auf 27 Kubikmeter/Sekunde für Groß-São Paulo und auf drei Kubikmeter/Sekunde für Campinas und die umliegende Region zu drosseln. Selbst mit dieser Rationierung würde in fünf Monaten kein Wasser mehr da sein, selbst wenn es regnen würde, wäre der Wasserabfluss doppelt so groß wie der Zufluss durch den Regen.
Obwohl sich die Wasserkrise verschärft, ist für den Gouverneur von São Paulo, Geraldo Alckmin, eine Rationierung keine Option. Stattdessen wurde seit März die technische Reserve des Systems Cantareira verwendet, um die Gemeinden weiterhin zu versorgen. Unter der technischen Reserve wird der geringe Rest an Wasser bezeichnet, der im Stausee verbleibt, wenn alle Schleusen bereits geöffnet sind. Die technische Ausrüstung wurde installiert, um das letzte Oberflächenwasser in das Leitungssystem zu pumpen.
Experten waren der Meinung, dass Gouverneur Alckmin sehr hoch pokert, wenn er bereits jetzt die letzten Reserven der Stauseen, die für den Notfall gedacht sind, in Anspruch nimmt. Rationierung schien ein Fremdwort für Gouverneur Alckmin zu sein, und pokerte darauf, dass der nötige Regen kommen wird. Es war letztlich ein politisches Spiel, denn die Wahlen im Oktober standen bevor. Gouverneur Alckmin wollte unbedingt die Wiederwahl für den größten und wirtschaftlich wichtigsten Gliedstaat Brasiliens gewinnen.
Gegner der großen Oppositionspartei Partido da Social Democracia Brasileira (PSDB), welcher der amtierende Gouverneur angehört, ist der ehemalige Gesundheitsminister Alexandre Padilha, ebenfalls ein politisches Schwergewicht und daher nicht zu unterschätzen. Alexandre Padilha gehört zur Partido dos Trabalhadores (PT) von Präsidentin Dilma Rousseff und erhält volle Unterstützung der Bundesregierung. Zudem wird er vom ehemaligen Präsidenten Lula da Silva unterstützt, der bereits vor zwei Jahren dem eher unbekannten Fernando Haddad zur Bürgermeisterschaft von São Paulo verholfen hat. Eine Wasserkrise mit Rationalisierung könnte zu Unmut bei der Bevölkerung führen, und seine politischen Gegner könnten diesen Umstand im Wahlkampf als Inkompetenz und schlechte Regierungsführung darstellen. Daher musste das Wasser uneingeschränkt zumindest bis Oktober fließen.
Gouverneur Alckmin hatet sich bereits abgesichert und diverse Maßnahmen ergriffen, um seine Ziele zu erreichen. Im Norden São Paulos wurde nachts das Wasser abgestellt, doch eine Rationierung für die gesamte Metropole wird weiterhin ausgeschlossen. Es trifft also nur die Leute, die besonders weit weg oder in Höhenlagen wohnen. Zudem hat Gouverneur Alckmin einen Strafenkatalog für Wasserverschwender aufgestellt. Ab Juni müssen die Bewohner, die mehr verbrauchen als bisher, 30 Prozent Aufschlag für das kühle Nass bezahlen. Ein Bonusprogramm, welches auch für Unternehmen und Supermärkte gilt, verspricht bei einer Einsparung von 20 Prozent Wasser einen Preisnachlass von 30 Prozent. Mit der Kampagne „Wasserwärter“ versucht die Sabesp die Bevölkerung zum Wassersparen zu sensibilisieren. Ob diese Maßnahmen ausreichen werden, wird sich zeigen.
Um während der Fußballweltmeisterschaft in keine Krise zu stürzen, wurde im Mai sogar das Grundwasser angezapft, um das Cantareira-Reservoir wieder auf einen Stand von rund 18,5 Prozent aufzufüllen. Auch dies ist ein historisches Ereignis, denn zum ersten Mal werden die sogenannten „Volumen morte“, also „toten Vorräte“, angezapft. Es sind rund 400 Millionen Kubikmeter Wasser, die in das Cantareira-Reservoir gepumpt werden könnten, aber es werden laut Gouverneur Alckmin zunächst nur 182 Millionen Kubikmeter gebraucht. Damit wäre die Versorgung für rund vier Monate gesichert. Die Kosten belaufen sich auf etwa 80 Millionen Real (etwa 27 Millionen Euro).
Der größte Coup des Gouverneurs war aber ein politisches Manöver. Er traf sich mit Präsidentin Rousseff und bat bei der Zentralregierung um Hilfe. Ein politischer Schachzug, denn so kann er die Verantwortlichkeit der Krise teilen und die Präsidentin als Partnerin zur Bewältigung der Krise auf seine Seite ziehen. Präsidentin Rousseff ist über die Situation bestens informiert, denn die Trockenheit ist nicht allein ein Wasserproblem, sondern ein Risiko für die Stromversorgung. Etwa 80 Prozent des nationalen Stroms werden durch Wasserkraft gewonnen, und somit wird das regionale Wasserproblem zu einem nationalen Stromproblem. Der politische Schachzug macht sich für den Gouverneur bezahlt, geht aber leider auf Kosten anderer. Bei dem Treffen wurde diskutiert, wie zukünftig solche Krisen vermieden werden können und wie das System Cantareira diesbezüglich verbessert werden kann.
Die Lösung sieht das Abzweigen von Wasser aus einem 15 Kilometer entfernten See über einen Kanal vor. Der See ist jedoch ein Kernstück eines hydrologischen Beckens, das die Millionenmetropole Rio de Janeiro versorgt. In Rio de Janeiro ist man von dieser Lösung keineswegs begeistert, denn die zweitgrößte Metropole des Landes hat auch eine fragile Wasserversorgung, auch wenn es noch keine Krise ist. Das könnte sich aber schnell ändern. Der Gouverneur hat mit seinen Maßnahmen, politischen Manövern und dem Ausbeuten der wirklich allerletzten Reserven jedenfalls Zeit gewonnen und scheinbar richtig gepokert. Seine Wahlversprechen, es werde bis März genug Wasser für alle geben, haben gewirkt. Bereits im ersten Wahlgang gelang ihm mit 57,3 Prozent der Stimmen die Wiederwahl. Jetzt wird er sich zwangsläufig mit der Wasserkrise ernsthaft beschäftigen müssen, denn trotz eventueller Niederschläge bleibt der Verbrauch hoch und alle, wirklich alle Reserven sind ausgeschöpft.