Das Bundeskriminalamt (BKA) und die Bundesregierung warnen in der neuesten „Risikoanalyse“ vor Terroranschlägen mit Chemikalien. Islamistisch motivierte Anschläge mit Chemikalien könnten sich laut dem Bericht besonders auf Trinkwasser und Lebensmittel konzentrieren.
Anschläge mit Chemikalien auf die Trinkwasserversorgung von Mehrfamilienhäusern oder auf Lebensmittel sind laut Aussagen der Bundesregierung aktuell eine „realistische Option“. In der aktuellen „Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz“ von Bundesregierung und Bundeskriminalamt, sind islamistische Terroristen in der Lage „größere Mengen Chemikalien zu beschaffen und diese auch einzusetzen“. Auch für Attacken oder Überfälle auf Einrichtungen oder Transporte der Chemie-Industrie bestehe ein „hohes Gefährdungspotenzial“.
Nach Angaben der Risikoanalyse müsste eine „chemischen Gefahrstoffen im Rahmen eines Anschlags für ihre Ziele zu nutzen“. Wie die Bild-Zeitung dem ihnen vorliegenden Bericht entnehmen konnte, sei darin detailliert geschildert, welche Gefahren der deutschen Bevölkerung durch Angriffe mit Chemikalien drohen. Des Weiteren wurde aufgeführt, wie Sicherheitsbehörden, Krankenhäuser und Rettungsdienste derzeit in der Lage sind auf solch einen Terroranschlag zu reagieren. Geraten wurde außerdem die Bundeswehr zur Bewältigung solcher Angriffe stärker zu involvieren.
Die Gefahr eines chemischen Angriffs ist alles andere als neu für die Sicherheitsbehörden. Im September 2016 wurde solch ein Szenario von Anti-Terror Experten an der Universität von Herzliya/Israel simuliert. Bei diesem Planspiel eines Terrorangriffs waren neun Vertreter der Bundesregierung anwesend. In einem Szenario wurde ein Lastwagen mit Chlorgas von Islamisten gekapert und als Waffe eingesetzt. Für Angriffe könnten auch Chemikalien wie Phosphor oder Brom genutzt werden.
Die Briten sehen die Gefahr ähnlich hoch. Anfang dieses Monats hatte Ben Wallace, Minister für Sicherheitsangelegenheiten, in einem Interview mit der Sunday-Times von Terrorattacken durch den Islamischen Staat (IS) auf Großbritannien gewarnt. Im dem Artikel gehen britische Sicherheitsbeauftragte davon aus, dass Anschläge mit Chemiewaffen vom IS wahrscheinlich sind. „Das Ziel des Islamischen Staats sind definitiv Angriffe mit so vielen Opfern wie möglich“, sagte Wallace gegenüber der Sunday Times.
Wie sehr der IS auf Chemiewaffen setzt, berichtete die BILD im November 2016. Mehr als 50-mal wurden in Syrien und Irak seit 2014 Chemiewaffen eingesetzt. Vor allem werden Chlor- und Senfgas eingesetzt, was zu einem grausamen Erstickungstod führt. Aber auch radioaktives Material ist im Besitz des IS. „In dem von ISIS besetzten Gebiet gibt es medizinische und industrielle Quellen für radioaktive Stoffe, wie zum Beispiel im Hazim-al-Hafid-Krankenhaus in Mossul, wo Spezialisten für Onkologie und Nuklearmedizin arbeiten“, sagte Karl Dewey, Analyst bei IHS Conflict Monitor gegenüber BILD. „Im Juli 2014 hat der ‚Islamische Staat‘ etwa 40 Kilogramm Nuklearmaterial minderer Qualität von der Universität Mossul erhalten. Obwohl die Uranverbindungen für die Herstellung radiologischer Waffen oder einer schmutzigen Bombe nur sehr eingeschränkt brauchbar wären, so denke der Islamische Staat Unterstützern zufolge dennoch darüber nach, wie die gefährlichen Stoffe eingesetzt werden könnten“.
Der IS ruft immer wieder zu Anschlägen im Westen auf und verfolgt dabei zwei Strategien. Entweder sollen Sympathisanten selbstständig bzw. mit minimaler Unterstützung Anschläge durchführen oder der IS schickt ausgebildete Kämpfer in den Westen, die mit lokaler Unterstützung größere Anschläge durchführen wie etwa in Paris.
Anschläge mit Senfgas oder einer „dreckigen Bombe“ sind tendenziell unwahrscheinlich, da der IS aktuell keinen Zugang zur türkischen Grenze hat. „Einzelne Kämpfer, Geld oder eine geringe Anzahl Waffen können sicher noch darüber geschmuggelt werden. Aber ein Chemiewaffen-Transport würde auffallen“, sagte Columb Strack, Nahost Analyst bei IHS zu BILD. Wenn es zu einem Chemie-Angriff in Europa kommen sollte, „wäre es viel wahrscheinlicher, dass industrielle Chemikalien verwendet werden oder Kampfstoffe in geringen Mengen lokal hergestellt werden.“
Von den 547 bekannten islamistischen „Gefährdern“ in Deutschland sind aktuell die Hälfte im Ausland, 88 in Haft und drei verschwunden. Drei Gefährder sind laut Aussage von letztem Mittwoch von SPD-Innenpolitiker Burkhard Lischka nicht mehr auf dem Radar der Sicherheitsbehörden. Mehr als ein Drittel der Gefährder komme aus Nordrhein-Westfalen und eine „deutlich zweistellige Zahl von ihnen“ halte sich in Berlin auf, sagte Stephan Mayer (CSU).
Die deutsche Bundesregierung und die Sicherheitsbehörden sind nie vorschnell mit Aussagen über die Gefährdung der Öffentlichkeit. Nur selten werden Aussagen über das Gefährdungspotenzial der Bevölkerung explizit herausgegeben. Daher ist der aktuelle Bericht zur „Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz“ und den darin erörterten Gefahren von Chemieangriffen auf das Trinkwasser und auf Lebensmittel sehr ernst zu nehmen.