Der Güterzug steht in Siggenthal im Aargau zur Abfahrt bereit, beladen mit rund hundert Behältern. Es ist schwach und mittelstark radioaktiver Abfall, verpackt in Metallfässer, eingegossen in Beton oder Bitumen. Mehr Sorge im Umgang mit der heiklen Fracht ist nicht angezeigt, damals, zu Beginn des Atomzeitalters in der Schweiz. Mit einem Ruck setzt sich der Zug in Bewegung. Er fährt quer durch Europa an die niederländische Küste. Dort werden die Fässer auf Frachtschiffe verladen und weit draussen im Nordatlantik versenkt.

Verdünnen und verteilen
Von 1969 bis 1982 praktiziert die Schweiz diese «Verklappung» auf See – Klappe auf, Fass über Bord, aus den Augen, aus dem Sinn. Versenken, verdünnen, verteilen ist damals die kostengünstige Lösung fast aller Staaten im Umgang mit radioaktivem Material. In den Tiefen der Weltmeere weitab jeder biologischen Aktivität wird es abgelegt und vergessen. Die Fässer sollen sich über die Jahre zersetzen und die Stoffe von Sedimenten bedeckt und in den Weiten der Ozeane bis zur Unschädlichkeit verdünnt werden.

Nach rund fünfzig Jahren dieser Praxis trug die Internationale Atomenergie-Agentur (IAEA) 1999 zusammen, wie viel Atommüll die beteiligten vierzehn Staaten von 1946 bis 1982 im Meer entsorgt hatten. Die Sowjetunion warf ihre Fässer in die Arktische See und den Pazifik, den auch Japan, Südkorea, Neuseeland und die USA benutzten. Die USA lagerten Müll auch vor ihrer Ostküste und mitten im Nordatlantik ab. Acht europäische Staaten liessen ihn in koordinierten Aktionen an fünfzehn Stellen vor der europäischen Westküste, bei den Kanarischen Inseln, in der Irischen See und im Ärmelkanal verschwinden. Soweit aufgrund der Selbstdeklaration der Staaten dokumentiert, liegen allein auf dem Grund des Nordatlantiks über 100 000 Tonnen in mehr als 222 000 Behältern.

Die Schweiz gehört zu den grössten Lieferanten
Die Schweiz schickt in zwölf Jahren 23 Sendungen; die grösste Lieferung 1972 umfasst mehr als tausend Fässer. Die Frachter fahren von den Niederlanden auf den Atlantik hinaus und werfen die Fässer 700 bis 800 Kilometer vor der französischen und der spanischen Küste über Bord. Drei «dumping sites» listet die IAEA mit genauen Koordinaten auf, wo der Schweizer Müll in 3600 bis 4750 Metern Tiefe liegt. Dokumentiert sind 7420 Fässer mit einem hauptsächlich von der Betonummantelung herrührenden Gewicht von 5321 Tonnen und einer Radioaktivität von 4419,3 Terabecquerel. Gemessen an der Strahlung belegt die Schweiz im Nordatlantik mit einem Anteil von 9,8 Prozent Platz zwei hinter Grossbritannien (77,5 Prozent). Auf der weltweiten Rangliste, die auch absichtlich versenkte oder verlorene atombetriebene Schiffe und U-Boote umfasst, liegt die Schweiz mit 5,2 Prozent auf Platz drei hinter der Sowjetunion/Russland (44,8) und Grossbritannien (41,4).

Versenkung von Schweizer Atomabfall im Meer
Nach offiziellen Angaben befindet sich in den Fässern kein hochaktives Material, denn dieses wurde von der IAEA bereits 1974 als ungeeignet für die Meeresversenkung bezeichnet. Die Schweiz schickt schwach und mittelstark Beta-Gamma-strahlende und tritiumhaltige Abfälle. Sie stammen aus dem Eidgenössischen Institut für Reaktorforschung (EIR), das in Würenlingen die Reaktoren Saphir und Diorit betreibt, aus dem Schweizerischen Institut für Nuklearforschung (SIN) in Villigen sowie aus dem 1969 explodierten Versuchsreaktor von Lucens. In den 1970er Jahren kommen Abfälle aus dem Betrieb der Kraftwerke Beznau und Mühleberg hinzu, Filter, Schutzanzüge und Handschuhe. 43 Prozent stammen aus dem EIR, 40 Prozent aus dem AKW-Betrieb und 17 Prozent aus Medizin, Forschung und Industrie, hauptsächlich Abfälle aus der Produktion von Leuchtfarben und Ionisationsmeldern.

In Schlauchbooten unter die Kräne
In den frühen 1980er Jahren beginnen die Proteste gegen die kostengünstige Seebestattung der «Atomasche», wie der Abfall genannt wird. Die Umweltorganisation Greenpeace schafft mit spektakulären Aktionen öffentliche Aufmerksamkeit für das schmutzige Treiben.

Aktivisten fahren in Schlauchbooten unter die Kräne, um den Abwurf der Fässer zu verhindern. Die Schiffsmannschaften bekämpfen sie mit Wasserschläuchen, mehrfach lassen sie Fässer fallen, so dass die Boote samt den Aktivisten kentern. Die Bilder gehen um die Welt, werden zu Ikonen des mutigen Protests und entfachen eine Empörung, die schliesslich zum Abbruch führt. 1983 wird im Rahmen der Londoner Konvention über die Verhütung der Ozeanverschmutzung ein freiwilliges Moratorium beschlossen. Die Schweiz unterlässt danach wie die meisten Staaten vorerst weitere Verklappungen.

Ogi hält eine Hintertür offen
Für hochaktive Abfälle hat die Nagra bereits ein Programm zur Endlagerung im Untergrund gestartet. Für schwach- und mittelaktive Stoffe hingegen will der damalige Energieminister Adolf Ogi die Option Meeresversenkung weiter offenhalten. Auf eine Anfrage im Nationalrat sagt er noch 1991, umfassende wissenschaftliche Abklärungen hätten gezeigt, dass die versenkten Abfälle zu keiner Gefährdung von Lebewesen geführt hätten. Für «bestimmte Abfälle» könne die Verklappung gegenüber der geologischen Endlagerung gar Sicherheitsvorteile aufweisen. «Es wäre deshalb falsch, heute aus politischen Gründen endgültig auf die Möglichkeit der Meeresversenkung zu verzichten.» Erst 1992 lässt der Bundesrat diese Option definitiv fallen.

Die Nuclear Energy Agency (NEA) der OECD hat 1980 an den Müllfriedh.fen im Nordatlantik das Überwachungsprogramm Cresp gestartet. Die Schweiz untersucht dabei, wie freigesetzte Nuklide aus Sedimenten in darüberliegende Wasserschichten aufsteigen. «Die Analysen zeigten erhöhte Aktivitäten bei den Ablagerungsstellen, die auf messbare Lecks schliessen lassen», stellt die NEA 1995 im Schlussbericht fest. In Wasserproben bei den Fässern wurden erhöhte Werte von Cäsium und Plutonium gemessen. Doch seien «die radiologischen Auswirkungen vernachlässigbar», so dass die Versenkung «zu keinen unzulässigen Strahlenbelastungen» geführt habe.

Auch wenn die Versenkung als harmlos erscheint – die radioaktive Fracht ist in der Biosphäre angekommen. Dies lässt die Einsicht reifen, dass man mit der Versenkung aufhören muss. Im Februar 1994 tritt ein internationales Verbot für die Verklappung von festen Atomabfällen in Kraft. Das Monitoring wird danach eingestellt.

Durchgerostete Fässer im Ärmelkanal
Im Jahr 2000 dokumentieren zwei Greenpeace-Schiffe mit Unterwasserkameras Ausmass und Zustand von Fässern in der Rinne Hurd’s Deep nordwestlich der Kanalinsel Alderney im Ärmelkanal, wo die Briten rund 61 550 Atomfässer versenkt haben. Sie sollten sich schnell zersetzen, so dass sich ihr Inhalt im strömungsreichen Kanal rasch verdünnt und verteilt. Die Bilder zeigen korrodierte und geborstene Behälter in nur rund 100 Metern Tiefe. 2013 sorgt der Film «Versenkt und vergessen – Atommüll vor Europas Küsten» für Aufsehen. Das Filmteam findet mit einem ferngesteuerten U-Boot Fässer, die teils leergespült, teils aber noch intakt sind und ihren Inhalt erst in Zukunft in die Umwelt abgeben werden.

Die Berichte führen zu einer Debatte darüber, ob wenigstens dieintakten Behälter aus dem seichten Ärmelkanal geborgen werden könnten. Atombehörden und Regierungen winken jedoch ab. Erst recht keinen Anlass sehen sie bei den Fässern in der atlantischen Tiefsee. Bei diesen weiss niemand, in welchem Zustand sie sind. Greenpeace Schweiz verlangt, dass die Lagerstätten sofort wieder überwacht werden. Wo sich eine Verbreitung der Radioaktivität ins Meer verhindern lasse, müsse der Müll gehoben werden. Dies sei teuer und aufwendig, aber «die beste aller schlechten Lösungen».

Für das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) ist die Sache hingegen erledigt. Die Atomaufsichtsbehörde betont, fast das ganze damals von den beteiligten Staaten versenkte Material seien Stoffe mit Halbwertszeiten von 70 Tagen bis 30 Jahren gewesen. Den grössten Anteil daran habe Tritium mit einer Halbwertszeit von 12 Jahren. Nach 36 bis 50 Jahren Ablagerung sei somit der Grossteil der Strahlung vollständig abgeklungen. Nur ein Achtel bis ein Sechzehntel der Tritiumbelastung sei überhaupt noch vorhanden. Die Kontamination sei gemäss Untersuchungen der internationalen Gemeinschaft unbedenklich. «Aufgrund der tiefen Belastung für die Umwelt stellt sich die Frage nach der Rückholung der Fässer nicht», hält das Ensi fest.

https://www.nzz.ch/schweiz/