Bisphenol A steht schon lange bei den in diesem Gebiet forschenden Wissenschaftlern mehrheitlich in der Kritik, doch die Behörden und die Politik predigen gebetsmühlenartig immer wieder, dass Bisphenol A keine Gefährdung für den Menschen darstelle, da es vom menschlichen Körper schnell abgebaut und ausgeschieden werde.
Die Massenchemikalie Bisphenol A ist ein Weichmacher, der vielfältig bei Plastik eingesetzt wird. Vor allem als Innenbeschichtung von Konservendosen und in Plastikflaschen und -verpackungen aus Polycarbonat kommt die Chemikalie vor, aber auch auf Kassenbons, Fahrkarten und vielen anderen Plastikprodukten des täglichen Gebrauchs. Unsere moderne Lebensumwelt ist praktisch von der giftigen Chemikalie durchzogen, und daher ist es kaum zu verhindern, dass wir Bisphenol A auf unterschiedlichen Wegen zu uns nehmen. Wir essen es, trinken es, nehmen es durch die Haut auf und atmen es sogar ein.
Als 2003 BPA im Rahmen der EU-Altstoffverordnung auf mögliche Risiken für Mensch und Umwelt untersucht wurde, kam die Europäische Kommission zu dem Schluss, dass bei sachgemäßer Anwendung von BPA keine Gefährdung für den Verbraucher ausgehe. Auch die aktualisierte Bewertung vom Juli 2008 blieb bei der vorherigen Auffassung. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hingegen hat bei ihrer ersten Einschätzung von Bisphenol A im Jahr 2002 einen Grenzwert, den sogenannten TDI-Wert (tolerable daily intake – tolerierbare tägliche Aufnahme), von zehn Mikrogramm pro Kilogramm Körpergewicht festgelegt. In der 2007 aktualisierten Bewertung von BPA berücksichtigte die Behörde etwa 200 Studien und Übersichtsartikel, die seit der ersten Bewertung neu erschienen waren. Darunter eine „Zwei-Generationen-Studie“ an Mäusen. Aufgrund der neuen Bewertung hob die EFSA die Tagesdosis von zehn auf 50 Mikrogramm je Kilogramm Körpergewicht Bisphenol A an, entsprechend dem Migrationswert von drei Milligramm je Kilogramm, welcher festlegt, wie viel BPA ein Lebensmittel durch Kontakt mit der Verpackung aufnehmen darf.
Eine neue Studie französischer Forscher unter Leitung von Professor Pierre-Louis Toutain von der Ecole Nationale Vétérinaire de Toulouse (ENVT) zeigt neue, erschreckende Erkenntnisse. Bisphenol A gelangt laut der Studie direkt über den Mund ins Blut. Bei Tierversuchen an Hunden erreichte die Konzentration von Bisphenol A im Blut einen um das Hundertfache erhöhten Wert, wenn es über die Mundschleimhäute anstatt über den Verdauungstrakt ins Blut gelangt. Die Studie ist insofern sehr aussagekräftig, als die Mundschleimhaut von Hunden in der Beschaffenheit der des Menschen ähnelt und üblicherweise in der allgemeinen Forschung an Hunden die Aufnahme von Medikamenten über den Mund getestet wird.
In der Wissenschaft wird allgemein angenommen, dass die unerwünschten Effekte durch BPA mit der Plasmakonzentration (interne Dosis) und nicht mit der verabreichten BPA-Dosis zusammenhängen. Das BPA wird im menschlichen Körper eingehend in seine konjugierte Form zu BPA-Glukuronide (BPAG) verstoffwechselt. Daher gibt es seitens der Wissenschaft enorme Kritik an der EFSA an der als unbedenklich eingestuften Tagesdosis von 50 Mikrogramm je Kilogramm Körpergewicht Bisphenol A. Sie stellen die Frage, warum die Behörden bei ihrer Risikobewertung hohe Konzentrationen von unkonjugierten BPA nicht berücksichtigt haben, sondern die Mengen von BPAG . Andere Forscher wiesen darauf hin, dass die relativ geringen Mengen von inaktiven BPAG mit den hohen Plasma-Levels, die bei Biomonitoring-Studien beobachtet wurden, nicht übereinstimmen.
Genau diesen Fragen wollten die französischen Forscher unter Leitung von Professor Pierre-Louis Toutain in ihrer aktuellen Studie und den Versuchen an den Hunden auf den Grund gehen. Sie kamen zu dem Schluss, dass über die Mundschleimhäute aufgenommenes Bisphenol A fast vollständig bioverfügbar ist. Damit wird die erste Verstoffwechselung umgangen, sodass es nicht als inaktive Bisphenol-A-Glukuronide (BPAG) im Körper wirkt, sondern zu der in anderen Studien oft beobachteten hohen inneren BPA-Exposition führt. Diese Erkenntnisse führen dazu, dass die bisherigen von den Behörden angewandte Verfahren und Grenzwerte in Frage zu stellen sind. Die Belastung der Bevölkerung scheint sehr viel höher zu sein als bisher angenommen. Außerdem scheint der Körper das BPA auch nicht vollständig in das inaktive BPAG zu verstoffwechseln, sondern eine nicht unerhebliche Menge aktives und bioverfügbares BPA gelangt über die Mundschleimhäute direkt in den systemischen Kreislauf und von dort in Zellen, Gewebe und Organe.
Ein großer Kritiker von BPA ist Frederick vom Saal von der Universität von Missouri, USA, der nicht nur aufgrund seiner Forschungsergebnisse weltweite mediale Aufmerksamkeit erhielt. Er kritisiert auch den Umgang der Gesetzgeber mit der Thematik, den großen Einfluss mächtiger Konzerne auf die Politik und beschuldigt die Chemiekonzerne, Studienergebnisse zu manipulieren. Er untersuchte 163 Niedrigdosis-Studien und stellte fest, dass 138 der 152 öffentlich finanzierten Studien auf Gefahren durch BPA hinweisen und die elf industriell finanzierten Studien keine Hinweise auf mögliche Schäden für den Menschen enthalten. Frederick vom Saal zeigte auch, wie sich mit subtilen Tricks die Ergebnisse von Versuchen in die gewünschte Richtung lenken lassen. „Das Resultat einer Studie hängt offenbar davon ab, wer sie bezahlt“, polarisiert vom Saal.
Eine Studie an der University of Missouri-Columbia machte deutlich, dass die Bevölkerung viel größere Mengen an BPA aufnimmt als bisher angenommen. Fünf Affen bekamen eine tägliche Dosis von 400 Mikrogramm BPA pro Kilogramm Körpergewicht, also eine 8-fach höhere Dosis, als die EFSA als unbedenklich einstuft. Dennoch war der BPA-Gehalt im Blut 24 Stunden später niedriger als der Durchschnittslevel der Bevölkerung von Industrienationen. „Die Ergebnisse zeigen, dass der Durchschnittsmensch einer täglichen Dosis BPA ausgesetzt ist, die deutlich über der geschätzten sicheren Tagesdosis liegt. Die Chemikalie muss damit aus weit mehr Quellen auf den Menschen übergehen als bislang gedacht“, erklärt Frederick vom Saal, Co-Autor der Studie, gegenüber Focus online.
In einer Studie an der Universität von Cincinnati an menschlichem Fettgewebe zeigte sich, dass BPA in den Zellen das Hormon Adiponectin unterdrückt, welches den Organismus vor dem metabolischen Syndrom schützt (den vier Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Diabetes, Übergewicht, Bluthochdruck und hohem Cholesterinspiegel).
Zusammenfassend zeigen die diversen Studien, dass die BPA-Belastung der Bevölkerung und ein Wert für eine unbedenkliche Tagesdosis bisher gar nicht richtig eingestuft sind. Scheinbar sind wir alle wesentlich höher belastet als angenommen, und zum anderen scheint die als unbedenklich eingestufte Tagesdosis von 50 Mikrogramm je Kilogramm Körpergewicht ein enormes gesundheitliches Gefahrenpotenzial zu beinhalten.
Den gültigen Höchstwert der EFSA hält selbst das Umweltbundesamt für 2000-fach zu hoch. Das Umweltbundesamt kritisiert, dass gesundheitsrelevante Effekte im Niedrigdosisbereich im europäischen Risikomanagement außer Acht gelassen werden. Bisher stützt sich die EFSA lediglich auf zwei amerikanische Studien, die von der amerikanischen Kunststoffindustrie finanziert wurden. Zudem weist die EFSA darauf hin, dass BPA zu den wissenschaftlich am besten untersuchten chemischen Stoffen gehört und daher ein Verbot von BPA unweigerlich dazu führen würde, dass die Verpackungs- und Bedarfsgegenständehersteller auf andere chemische Stoffe zurückgreifen würden. Diese wären dann eine völlige Unbekannte, die erheblich größere gesundheitliche Gefahren und andere toxische Stoffe mit sich bringen könnten. Ein gut charakterisiertes Risiko ist laut der EFSA einem deutlich schlechter einschätzbaren Risiko vorzuziehen.
Einen Lichtblick gibt es allerdings. Die EFSA kann scheinbar die Augen vor den vielen Studien, die eine Gefährdung in BPA sehen, nicht verschließen. In einer Pressemitteilung vom Januar 2014 heißt es: „Die EFSA startet eine öffentliche Konsultation zum Entwurf ihrer Bewertung der für die menschliche Gesundheit bestehenden Risiken einer Exposition gegenüber Bisphenol A (BPA). Die Behörde hat eine umfassende Auswertung der wissenschaftlichen Fachliteratur und früherer Risikobewertungen durch Sachverständigengremien zu BPA vorgenommen. Sämtliche Interessengruppen und sonstige interessierte Kreise sind aufgerufen, im Rahmen einer öffentlichen Online-Konsultation bis zum 13. März 2014 zu dem Dokument Stellung zu nehmen. Die EFSA begrüßt insbesondere Rückmeldungen nationaler Risikobewertungsstellen, die BPA in der Vergangenheit bereits bewertet haben. Vor dem Hintergrund ihrer Verpflichtung zu Offenheit und Transparenz wird die EFSA zudem ein Treffen mit Interessengruppen abhalten, um die im Zuge der Konsultation erhaltenen Rückmeldungen zu erörtern.“
Es bleibt zu hoffen, dass dies nicht nur zur Beruhigung der Bevölkerung dient, sondern ernsthaft die neuesten Erkenntnisse mit einbezogen werden. Dann müsste die EFSA nämlich zu dem Schluss kommen, dass der BPA-Grenzwert viel zu hoch ist. Die EFSA sollte zum Wohle des Volkes handeln und die Industrie auffordern, auf BPA zu verzichten.