Jeder fünfte Bundesbürger hat Angst vor Medikamentenrückständen im Trinkwasser
Laut einer repräsentativen Umfrage der „Apotheken Umschau“ zählen für jeden fünften Bundesbürger (21,1 Prozent) – in der Altersgruppe der 14- bis 19-jährigen sogar für jeden dritten (30,5 Prozent) – Medikamentenrückstände im Trinkwasser zu den am meisten gefürchteten Gesundheitsgefahren. Unbegründet ist die Angst nicht. Statistisch gesehen schluckt jeder Bundesbürger 1.250 Tabletten pro Jahr.
Das Problem hierbei: Bis zu 70 Prozent eines Medikamentes werden wieder ausgeschieden, und so gelangen jeden Tag mehrere Tonnen Arzneimittelrückstände in die Umwelt. Ein zusätzliches Problem ist die unsachgemäße Entsorgung nicht verwendeter Medikamente in die Toilette, anstatt sie in der Apotheke abzugeben. „Schätzungsweise mehrere Hundert Tonnen nicht verbrauchter Medikamente pro Jahr entsorgen viele Bürger unsachgemäß direkt über Spüle oder Toilette“, erklärt das Umweltbundesamt in einer Presseerklärung. Vorkommen und Auswirkungen von Arzneimitteln in der Umwelt werden nach Meinung der Behörde unterschätzt. Derzeit werde die Auswirkung der Substanzen auf die Umwelt nicht systematisch untersucht. „Die Vorsorge beim Umgang mit Arzneimittelrückständen muss verbessert werden, denn diese Stoffe können problematisch für die Umwelt sein. Eine bessere Überwachung soll helfen, Belastungsschwerpunkte und ökologische Auswirkungen von Medikamenten zu erkennen und die medizinische Versorgung umweltverträglicher zu gestalten“, erklärt UBA-Präsident Jochen Flasbarth.
Der Geochemiker Michael Bau von der Jacobs University in Bremen untersucht seit Anfang der 90er-Jahre Wasserproben. Im Vergleich zu den Messergebnissen von damals liegen die heutigen Belastungen um ein Vielfaches höher – Tendenz steigend. So bezeichnet Bau die gemessenen Werte im Trinkwasser von heute als einen Blick in die Vergangenheit. Bis zu 12 Jahren dauert es, bis die Medikamentenrückstände aus den Flüssen ihren Weg durch Erde ins Grundwasser finden und über Quellen wieder an die Oberfläche gelangen.
Dank moderner Messmethoden können Wissenschaftler sogar den Drogenkonsum einer Stadt anhand der Rückstände von Kokain, Amphetaminen oder Cannabis feststellen. Die Tests auf Arzneimittel sind komplizierter, weil es einfach zu viele unterschiedliche gibt. Es muss gezielt getestet werden, denn ein breitgefächertes „screening“ auf eine Vielzahl von Medikamenten ist aufwendig und teuer. Zudem gibt es in der Trinkwasserverordnung keine Grenzwerte für Medikamentenrückstände, und so wird kaum offiziell über Messergebnisse geredet. Noch wird beteuert, die nachgewiesenen Mengen seien so gering, dass von keiner Gefahr ausgegangen werden kann. Sicher ist man sich aber nicht. „Derzeit gibt es keine Hinweise auf eine akute Schädigung. Wir können aber nur schwer etwas über die Langzeitauswirkung sagen, insbesondere für sensible Gruppen in der Bevölkerung, das sind vor allem Kleinkinder und alte Menschen“, erklärt Prof. Martin Exner, Direktor des Instituts für Hygiene und Öffentliche Gesundheit an der Universität Bonn gegenüber WDR.
In Deutschland gibt es keinen Fluss, in dem nicht Hormone, Röntgenkontrastmittel, Antibiotika, Schmerzmittel oder andere Medikamentenrückstände nachgewiesen werden können. Von den 156 in Deutschland in verschiedenen Umweltmedien nachgewiesenen Arzneimittelwirkstoffen stuft das Umweltbundesamt 24 mit hoher Priorität ein. Immerhin: Die Europäische Union begann dieses Jahr mit der Überwachung der Entwicklung bestimmter Medikamentenrückstände im Oberflächenwasser, „um sicherstellen zu können, dass sie keine Gefahr für die Umwelt oder die menschliche Gesundheit darstellen“, wie EU-Umweltkommissar Janez Potočnik in einer Mitteilung erklärte. Zudem fordert die EU Grenzwerte für zunächst drei wichtige Stoffe.
So sollen Flüsse und Seen auf das Schmerzmittel Diclofenac und zwei Hormone, das natürliche Hormon Estradiol sowie das in der Antibabypille enthaltene Ethinylestradiol, untersucht werden. Bundesweit werden etwa 30 Prozent des Wassers zur Aufbereitung von Trinkwasser aus Oberflächengewässern gewonnen. Da Diclofenac wegen einer möglichst lange anhaltenden Wirkung auf Stabilität ausgelegt ist, werden knapp 70 Prozent des Wirkstoffes wieder ausgeschieden. Studien belegen, dass die Folgen für die Umwelt enorm sind. In Indien und Pakistan wurde der Wirkstoff an Rinder verfüttert und tötete Millionen von Greifvögeln. Drei Geierarten wurden beinahe ausgerottet, die vermutlich beim Fressen von Kadavern Diclofenac zu sich genommen haben. In unseren heimischen Gewässern haben bereits niedrige Dosen wichtige Organe bei Forellen und Karpfen geschädigt. Die Hormone wiederum vermindern die Fortpflanzungsfähigkeit bei vielen Fischen. Wie BestWater bereits mehrfach berichtete, könnten nach heutigem technischem Stand die Rückstände bereits in den Kläranlagen aus dem Abwasser gefiltert werden. Leider sind die Verfahren noch sehr teuer (Nanofiltration), technisch sehr aufwendig oder produzieren neue, noch in ihrer Wirkung unbekannte Nebenprodukte.
Für Geochemiker Michael Bau sind die Medikamentenrückstände nur ein Teil des Problems. Es kommen noch weitere, neue Stoffe hinzu, wie Rückstände aus der Nanotechnologie oder von Pflegeprodukten und Kosmetika. Ebenso verwertet der menschliche Körper Zuckerersatzstoffe nicht, die in vielen Nahrungsmitteln verbreitet sind. Es ist heute noch nicht absehbar, welche Risiken und Gefahren auf uns zukommen. Die Angst jedes fünften Bundesbürgers vor Gesundheitsgefahren durch Medikamentenrückstände im Trinkwasser ist durchaus begründet.