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„Internet-Café-Flüchtlinge“ – Tokio´s neue Randgesellschaft

Kultur„Internet-Café-Flüchtlinge“ - Tokio´s neue Randgesellschaft

In Tokyo nehmen die Lebensumstände junger Männer der unteren Gesellschaftsschichten eine erschreckende Dimension ein. Horrende Mietpreise zwingen fleißig arbeitende Menschen in zu Minihotel´s umgewandelte Internet-Cafés, die mit kapselförmigen Schlafplätzen gerade mal etwas mehr Raum bieten als Särge. Eingepfercht wie Mastvieh fristen sie ein unwürdiges Dasein.

Für das Anmieten eines Wohnobjektes müssen in Japan schon mal fünf Monatsmieten auf den Tisch gelegt werden. Eine Monatsmiete geht direkt als Provision an den Makler, zwei weitere werden als Kaution für das Mietobjekt hinterlegt und zwei ganze Monatsmieten als eine Art Dankesgeld an den Vermieter. Das sind Voraussetzungen die sich vor allem Japaner aus den unteren Gesellschaftsschichten nicht leisten können.

Bei genauerem Hinsehen während der Abenddämmerung wird das Problem auf den Straßen Tokyos sichtbar. Beinahe überall sind Menschen zu sehen, die versuchen preisgünstig über die Nacht zu kommen. Sei es, das sie direkt am Bahnhof verbleiben, um in den frühen Morgenstunden direkt wieder zur Arbeit zu fahren oder die Nacht in Fast-Food Restaurants oder Karaoke-Bars, bei einem einzigen Getränk sitzend, verbringen. Gerade junge Japaner sind schlafend in einem der über 900 McDonald Filialen anzutreffen. Die Medien bezeichnen mittlerweile als „McFlüchtlinge“. Aus der Not heraus hat sich eine zweifelhafte Nische entwickelt. Immer mehr junge Tokioter wählen nun eines von den tausenden Internet-Cafés als Ruhestätte für die Nacht. Über die Jahre hat sich hier ein neuer Trend entwickelt. Das Internet-Café als Wohnort.

Das Szenario in einem x-beliebigen Internet-Café wirkt auf den ersten Blick wie die Umkleidekabinen in einem Hallenbad. Lange Gänge mit winzigen Räumen, Tür an Tür, mit vor der Tür liegenden Schuhen. Die Kabinen in den Internet-Cafés sind gerade mal groß, dass ein Tisch, ein Stuhl und der Computer samt Monitor rein passt. Wer die Beine unter den Tisch legt, schafft es vielleicht sich halb zusammengerollt auf den Boden zu legen und zu schlafen. Der Platz reicht nicht, selbst für die durchschnittlich kleinen Asiaten, um sich ausgetreckt auf den Boden zu legen. Daher schlafen die meisten Besucher in dem unbequemen Bürostuhl. So sieht das Zuhause tausender Menschen in Tokio aus, für die es trotz Arbeit unmöglich ist sich Wohnraum jedweder Art zu leisten.

Einige Internet-Cafés stellen Duschkabinen mit Münzeinwurf bereit. Im Eingangsbereich ist eine Art von kleinem Shop mit Snacks und Fertiggerichten sowie eine kleine Bücherei mit überwiegend Comics, welche die Japaner so lieben. Die Nacht kostet zwischen 5,70 Euro und 9,50 Euro inklusive Softdrinks oder besser gesagt Wasser mit Geschmackszugaben. Mit diesen als Minihotels genutzten Internetcafés ist wenigstens ein wenig Privatsphäre gewährleistet. In den Augen vieler ist es allemal besser als auf der Straße zu schlafen. „Mobiler geht‘s nicht – von einem Tag auf den anderen zum Auszug bereit. Und freier als jeder normale Angestellte“, sagt ein 22-jähriger Obdachloser der im Internet-Café residiert.

Eine Studie des japanischen Wohlfahrtsministeriums zeigt das Ausmaß der Problematik. 5.400 Japaner leben in Internet-Cafés. Die Dunkelziffer liegt wohl eher bei mehreren zehntausend Menschen schätzt Makoto Kawazoe, Wirtschaftsexperte und Mitbegründer der Gewerkschaft für junge Leiharbeiter im Großraum Tokio. „Es begann Ende der 90er und wurde in den 2000er immer mehr zur sozialen Frage. Seit einem Jahr ist die Armut in Japan sprunghaft angestiegen“, so Kawazoe. Schuld daran ist für ihn die Deregulierung des Leiharbeits-Marktes. Leiharbeitsfirmen können sich jetzt auf fast alle Branchen ausdehnen, was zur Folge hat, dass immer weniger Unternehmen Aushilfen direkt einstellen.

Momentan sind 38 Prozent der Berufstätigen in Japan über Zeitarbeitsfirmen beschäftigt. „Leiharbeiter stehen aber ganz unten in der Firmenhierarchie. Sie werden als Erste gefeuert und bekommen oft keine festen Löhne“, weiß Kawazoe. Es trifft besonders die Jungen Menschen die gar nicht mehr in die Nähe von besseren Arbeitsprivilegien kommen. Die Leiharbeitsfirmen vergeben die Jobs via SMS oder Email, meist sind es Fabrik-Jobs ohne Perspektiven. Ein Teufelskreis aus dem es nahezu nicht möglich ist auszubrechen, bevor das System einen zerdrückt.

In Japan gibt es so gut wie keine Chance auf staatliche Arbeitslosenunterstützung. Wer einmal seinen Job verliert, ist zudem auch schnell Obdachlos. Dann gilt es sich von Tag zu Tag durchzukämpfen, um nicht in der totalen Armut zu enden. Wer einen Job hat, ist bereit nahezu alles zu machen, um ihn zu behalten. Unbezahlte Überstunden, freiwilliger Verzicht auf Urlaub und Mobbing durch Vorgesetzte werden da stillschweigend und beinahe dankbar in Kauf genommen, erklärt der seit vier Monaten im Internet-Café wohnende Tadayuki Sakai. Er war über 20 Jahre lang Büroangestellter bei einer Kreditkarten-Gesellschaft und kümmerte sich um die Computersysteme des Unternehmens. Er machte 120 bis 200 Überstunden jeden Monat, arbeitete bis ihm die Augen zufielen und verbrachte viele Nächte schlafend auf seinem Stuhl im Büro, um direkt nach dem Aufwachen weiterarbeiten zu können. Eines Tages verlangte sein Vorgesetzter, ihm einige Getränke zu holen, doch er erwiderte. „Es tut mir Leid. Ich kann gerade nicht.“

Eine Antwort die ihm zum Verhängnis wurde. Sein Vorgesetzter sagte ihm darauf. „Ich brauche Dich nicht mehr“. Ab diesem Zeitpunkt wurde er ignoriert und sein Vorgesetzter sprach eineinhalb Monate nicht mehr mit ihm. Selbst wenn es um Belange des Unternehmens ging. Er wurde verstoßen bis er es eines Tages nicht mehr ertragen konnte und freiwillig gekündigtet. Seitdem hält er sich als Leiharbeiter über Wasser und lebt im Internet-Café. Täglich auf der Suche nach neuen Jobs, doch eines Bürojob wird er nie wieder mehr annehmen.

Eine anfangs des Jahres veröffentlichte besagt, dass es in Japan 18.500 Obdachlose gibt. Im Vergleich zu einer Studie die vor vier Jahre veröffentlicht wurde, ist dies ein Rückgang von 27 Prozent. In der Studie sind die meisten Obdachlosen im Alter von 40 Jahren oder älter und weniger gebildet. Scheinbar ist der neue Trend gar nicht ausführlich erfasst worden. Die Obdachlosigkeit hat ein neues, trauriges Gesicht. Die „Internet-Café-Flüchtlinge“ zeigen, dass es sich um immer mehr junge Menschen handelt, die sich ohne festen Wohnsitz von einem Job zum nächsten hangeln.

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