Das Problem von Pestiziden im Grund- und Oberflächenwasser ist nicht neu. Hauptverursacher ist immer noch die Landwirtschaft, und kommt es zu hohen Giftwerten, wie beim Isoproturon-Anstieg, wird argumentiert, diese Erhöhung sei saisonal bedingt. Dieses Biozid wird beim Anbau des Wintergetreides angesetzt.
Also müssen die gemessenen Isoproturon-Mengen außerhalb der Saison einer anderen Quelle zuzuschreiben sein als der Landwirtschaft. Werden zudem einzelne Stoffe gefunden, die längst in der Landwirtschaft verboten sind, muss die Verunreinigung auf jeden Fall andere Ursachen haben. Das giftige Terbutryn, in Gewässern von Nordrhein-Westfalen nachgewiesen, ist seit 1997 für die Landwirtschaft verboten. Auch an einigen deutschen Kläranlagenabflüssen wurden erhöhte Werte von Terbutryn entdeckt. Selbst das stark gewässergefährdende Mittel Diuron taucht wieder in hohen Konzentrationen in Gewässern auf. Bis 1996 nutzte die Deutsche Bahn Diuron für die Unkrautvernichtung der Gleise, danach aber wurde dieser Stoff wegen seiner hohen toxikologischen Wirkung verboten. Der Grund für das Auftauchen der bereits verbotenen Gifte liegt ironischerweise im Umweltschutz – genauer gesagt, im Klimaschutz.
Immobilienbesitzer sind vom Gesetzgeber aufgefordert, die Energiekosten zu senken. Seit 2013 ist der Energieausweis sogar Pflicht. Klimaschutz ist Umweltschutz, also an sich eine gute Sache. Doch wie der UN-Weltwasserbericht 2014 (siehe Titelgeschichte) erklärt, stehen die Ressourcen Energie und Wasser in wechselseitiger Abhängigkeit, sowohl im Positiven wie im Negativen. Was gut für den Energiesektor ist, kann Nachteile für den Wassersektor haben. Und genauso ist es bei der Energieeffizienz für Gebäude.
Am einfachsten lassen sich Energiekosten sparen, wenn die Gebäudefassade mit Wärmedämm-Verbundsystemen verkleidet wird. Zum einen ist dies relativ günstig und zum anderen mit wenig Aufwand verbaut. Der Nachteil dieses Systems gegenüber einer Steinfassade ist zugleich der gewünschte Effekt. Die Wärme aus den Innenräumen wird eingedämmt, aber anders als massive Mauersteine können die Außenwände keine Wärme durch die Sonne aufnehmen und speichern. Damit sind die Innenwände warm und geben die Wärme nicht nach außen ab, womit die Außenwände in der Nacht rapide abkühlen und es durch Kondensation der Feuchtigkeit zu Tauwasser an den Außenwänden kommt. Die Folgen sind Algen und Pilzbefall der Außenfassade, und deshalb werden den Kunstharzputzen und Wandfarben ein Biozid-Cocktail unterschiedlichster Wirkstoffe hinzugeführt. Die Hersteller der Baumaterialien haben scheinbar keine Regelungen, weshalb auch das für die Landwirtschaft verbotene Terbutryn und das für die Deutsche Bahn verbotene Diuron zum Einsatz kommen.
Zum Einsatz kamen die Biozide bereits in den 80er-Jahren, als die ersten Fassaden mit Wärmedämmung errichtet wurden. Die Eidgenössische Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz (EAWAG) befasst sich beinahe seit Anbeginn mit dem Thema der Auswaschung von Bioziden aus den Hausfassaden. „Erste Verbrauchserhebungen zeigten schon in den 90er-Jahren, dass die in Fassaden eingesetzte Menge an Bioziden ähnlich hoch ist wie die in der Landwirtschaft. Man hat sich dann gefragt, ob die Substanzen auch in den Gewässern auftauchen“, erklärt Irene Wittmer von der EAWAG gegenüber dem ARD-TV-Format „W wie Wissen“. Die schweizerischen Wissenschaftler haben 2005 nachgewiesen, dass vor allem kleine Gewässer stark durch Biozide aus Fassaden verunreinigt sein können. Eine weitere Erkenntnis war, dass nach achtzig intensiven Beregnungen die Menge der Giftstoffe exponentiell abnahm. Dies bedeutet, dass besonders bei neuen Fassaden hohe Konzentrationen ausgewaschen werden.
Die Laborergebnisse wurden in einem Feldversuch wiederholt. In einem elf Hektar großen Siedlungsgebiet im Kanton Zürich wurden Regenauffangbehälter an Fassaden montiert. Zusätzlich wurde ein eigenes Modellhaus mit Messinstrumenten ausgestattet und den Wetterverhältnissen ausgesetzt. Welche Biozide in den Fassaden verarbeitet wurden, war den Wissenschaftlern bekannt, weshalb ziemlich exakt die Auswaschungsraten der Biozide aus den Fassaden bestimmt werden konnten. Neue Fassaden haben 1.000-fach höhere Konzentrationen an Bioziden abgegeben als Gebäude, deren Fassaden bereits vier Jahre alt waren. Die Forscher wiesen in einem Liter Fassadenabfluss sieben Milligramm Diuron nach, was in einem Gewässer mit 70.000 Litern verdünnt werden müsste, damit die Grenzwerte der Gewässerschutzverordnung nicht überschritten werden.
Solch hohe Konzentrationen töten Algen, Mikroorganismen, Wasserpflanzen und Gewässerlebewesen selbst bei hoher Verdünnung. Einige Wirkstoffe sind so extrem toxisch, dass bereits wenige Nanogramm pro Liter sehr wirkungsvoll sind, wie das bei Schiffsanstrichen verwendete Cybutryn. Neben Bioziden kommt auch Nanosilber bei der Fassadendämmung zum Einsatz. „Bei den klassischen Bioziden wissen wir schon viel über das Abbauverhalten, beim Nanosilber wissen wir noch wenig“, so Michael Burkhardt von der EAWAG. Sehr hohe Konzentrationen wurden auch beim frisch verputzten und neu angestrichenen Modellhaus gemessen. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist eindeutig. Nach fünf Jahren sind beinahe alle Biozide ausgewaschen. Dann sind die Fassaden wieder den Pilzen und Algen ausgeliefert, was in der Regel wieder zu einem neuen Anstrich mit Biozid-versetzter Farbe führt.
Die Biozide müssen wasserlöslich sein, damit sie in ihrer gelösten Form ihre Wirkung entfalten und durch das Wasser auch an die Fassadenoberfläche transportiert werden können. „Weil Biozide in Fassaden sehr gut wasserlöslich sind, können sie leicht in die Umwelt gelangen“, so Burkhardt. Ein weiteres Problem sind die seit den 70er-Jahren vermehrt bevorzugten Trennkanalisationen für Abwasser. Um die Kanalisation zu entlasten, wird Regenwasser in einem getrennten Kanalsystem möglichst vor der Kläranlage zum Versickern verbracht. Damit gelangen die Biozide direkt in die Bäche. War man früher der Meinung, dass Regenwasser kaum belastet sei und bedenkenlos in nahe gelegenes Oberflächenwasser abgeleitet werden könne, sieht die Sachlage heute anders aus. In Hinblick auf die Qualitätskriterien des Regenwassers müsste darüber neu nachgedacht werden.
Bei den Forschungen im Feldversuch der EAWAG und der Universität Duisburg-Essen kamen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass Isoproturon-Konzentrationen in Fassaden auf die Fläche bezogen 10- bis 20-mal höher liegen als in der Landwirtschaft. Berechnungen auf acht bis zwölf Jahre legen nahe, dass im Vergleich zur Landwirtschaft bei einer mehrgeschossigen Siedlung die zwei- bis zehnfache Menge an Wirkstoff pro Hektar in die Gewässer gelangt. Etwa 900 Millionen Quadratmeter Wärmedämm-Verbundsysteme waren 2012 auf deutschen Fassaden angebracht, was in etwa 900 Quadratkilometer entspricht. Diese Fläche ist größer als das Bundesland Berlin. „Die giftige Wirkung von Bioziden für Gewässer ist unbestritten. Es kommt der Tag, an dem wir eine Wirkung am Menschen sehen“, erklärt der Toxikologe Herbert Lichtnecker gegenüber Der Westen.
Die Gebäudefassaden sind ein erheblicher Faktor der Biozidbelastung der deutschen Gewässer. Die Wirkstoffe Terbutryn und Diuron können zu einhundert Prozent den Baumaterialen für Fassaden zugeordnet werden. Trotz des massiven Biozideinsatzes bei den Gebäudefassaden ist der gewünschte Effekt der Pilz- und Algenvernichtung scheinbar marginal. Helmut Venzmer von der Fachhochschule Wismar wollte in einem Forschungsprojekt den Algen- und Pilzbefall auf Gebäudefassaden erfassen. Laut Venzmer sind mehr als 75 Prozent der Fassaden trotz Biozideinsatz von Algen-, Moos- oder Pilzbefall betroffen. Somit hat der Klimaschutz und der daraus resultierende Energieeffizienz-Boom für eine Biozidwelle gesorgt, die letztlich keinen Effekt für den ursprünglichen Zweck hat. Die Folgen für die Umwelt, das Trinkwasser und die Gesundheit sind bisher kaum bekannt. Was zukünftig noch zu erwarten sein könnte, ist kaum abzuschätzen.