Das Geschäftsgebaren der Pharmaindustrie hat sich in den letzten 30 Jahren komplett verändert. Heute geht es kaum noch um die Erforschung von Heilmitteln für bestimmte Krankheiten. Für die Pharmaindustrie ist es lohnender für bestehende Mittel neue Erkrankungen zu erfinden, die ganze Bevölkerungsschichten betreffen. Heilung rückt in den Hintergrund, was zählt ist Profit.
Die heutigen wirtschaftlichen Strategien von Pharmakonzernen sind perfide. Menschen werden durch Studien, Marketing-Kampagnen und Lobbyarbeit zu Kranken gemacht, zu willkommenen Medikamentenverbrauchern. Es werden Mediziner und Gesundheitsbehörden eingespannt, um vermeintliche Krankheitsbilder zu erschaffen, die behandelt werden müssen. Die bewusste Förderung von Krankheiten wird als „Condition Branding“ bezeichnet. Die Medizin ist heute ein gigantisches Marketinginstrument und die Wissenschaft steht längst im Dienst der Wirtschaft und nicht die des Patienten. Der Dokumentarfilm „Krankheiten nach Maß“ beleuchtet die Entwicklung der Pharmaindustrie der letzten Jahrzehnte.
„Statt wirklich neue Medikamente gegen echte Krankheiten zu erfinden, Krankheiten die die ganze Menschheit treffen könnten, wie Krebs, Bluthochdruck und so weiter, hat die Pharma-Industrie einen einfacheren Weg gefunden, um ihre Verkaufszahlen zu halten. Sie erfindet Krankheiten die es gar nicht gibt. Und bietet Arzneien an die nicht helfen. Aber das ist unwichtig. Schließlich sind die sogenannten Kranken ja auch nicht krank“, sagt Prof. Philippe Even, Leiter des Neckar-Instituts. Eine der erfundenen Krankheiten nach Meinung von Professor Even ist die prämenstruelle dysphorische Störung. Während der Menstruation leiden nicht wenige Frauen unter Gereiztheit oder Angstgefühlen. Das war schon immer so und hat sicherlich auch schon zu Ehekrisen geführt. Dieses monatliche hormonelle Chaos, welches Frauen durchleben müssen, war perfekt für die Erschaffung der Erkrankung namens prämenstruelle dysphorische Störung. Diese Störung besagt, dass Frauen vor ihrer Periode eine Dysphorie haben. Der Begriff kommt aus dem Griechischen und ist recht vage. Er bedeutet so viel wie „In dieser Zeit zeigen Sie ein leicht unstetes Verhalten“. Das lässt sich doch sicher behandeln, dachte die Pharmaindustrie. Die Frage lautete nur noch womit. In den USA war das passende Mittel schnell gefunden.
„Es gab mal ein sehr bekanntes Mittel gegen Depressionen, Prozac, für das lief das Patent ab. Es brachte nichts mehr ein. Also werden 100 Artikel über die prämenstruelle dysphorische Störung in rund 30 Fachzeitschriften veröffentlicht. Die Pharmareferenten verteilen die Artikel an Ärzte, damit diese etwas kennenlernen, von dem sie zuvor nichts wussten. Und dazu die passende Lösung. Ein neues Molekül. Es ist genau dasselbe wie in Prozac, auch sonst alles identisch, selbst die Dosierung, nur die Farbe nicht. Dieses Mittel wird vier Mal so teuer verkauft. Schließlich wird es nur an fünf Tagen im Monat genommen und die Kosten müssen ja gedeckt werden“, erklärt Prof. Philippe Even.
Einige Pharmaunternehmen bemühen sich nicht Lösungen zu finden, um ein neues Medikament für bestehende Krankheiten zu finden und zu entwickeln. Sie haben meist ein Portfolio an Arzneien die bereits eingesetzt werden, jedoch nicht in großer Zahl, dass sie besonders lukrativ sind oder sie Präparate entwickelt, die jedoch noch nicht auf den Markt gebracht wurden. Also werden anstatt neue Medikamente zu entwickeln, lieber für die bereits vorhandenen Medikamente gesundheitliche Probleme gesucht, die damit behandelt werden können.
Das wirtschaftliche Grundprinzip ist Angebot und Nachfrage. Jedes Unternehmen entwickelt seine Produkte dahingehend, um die wichtigsten Märkte zu eröffnen oder zu sichern. Das gilt für die Wirtschaft im Allgemeinen und für die Pharmaindustrie im Besonderen. Der Einsatz der Industrie richtet sich nicht nach den Kranken, sondern nach den Märkten.
Es herrscht wie in jeder Branche Wettbewerb. Die Pharmaunternehmen wollen den Markt ständig vergrößern. Daher ist das Interesse groß die Diagnostik-Kriterien weiter zu entwickeln. Die meisten Menschen haben einen leichten Bluthochdruck. Das ist in der Regel nicht bedenklich. Ein kleiner Teil der Menschen mit erhöhtem Bluthochdruck erreicht einen Wert von 170, ein noch kleinerer Teil 180 und so weiter. Je nachdem mit welchem Wert nun ein zu behandelnder hoher Bluthochdruck definiert wird, sind entweder mehr oder weniger potenzielle Medikamentenverbraucher gegeben.
„Erwachsene mit einem Bluthochdruck jenseits von 160/90 bekommen ein Blutdruck senkendes Mittel verschrieben. Von 1.000 Erwachsenen, die solche Medikamente einnehmen, sind nach vier, fünf Jahren ca. 10 oder 20 einem Herzinfarkt entgangen. Das ist wunderbar, allerdings darf dabei die Größenordnung nicht vergessen werden. Die Mehrheit dieser Leute hat das Medikament nämlich ohne gesundheitlichen Nutzen eingenommen. Die Hersteller haben einen Nutzen. Die Gesundheit dieser Patienten nicht. Würden die Werte für Bluthochdruck noch weiter gesenkt, würden es noch mehr Menschen verschrieben bekommen, mit noch weniger Nutzen. Es werden nur mehr Menschen den Nebenwirkungen ausgesetzt. Aber der Markt wäre natürlich größer“, sagt Dr. Bruno Toussaint, Redakteur der Zeitschrift ‘PRESCRIRE‘.
Beim Cholesterin verfährt die Pharmaindustrie ähnlich. Es ist der Industrie weitgehend gelungen, den Menschen einzureden, dass die Cholesterin-Werte von 25-jährigen die Norm ist, die es gilt zu erreichen. Würden diese Bezugswerte auf die Cholesterin-Werte der Deutschen und Französischen Bevölkerung angewandt, wären 95 Prozent aller Deutschen und Franzosen rein formal krank. „Aus der Sicht der Pharma-Industrie ist das wunderbar, denn das eröffnet ihr einen gewaltigen Markt. Sie hat es geschafft sehr vielen Menschen einzutrichtern, Cholesterinsenker einzunehmen, um so das Risiko eines Herzinfarktes oder Schlaganfalles zu vermindern. Dabei wissen wir, dass bei Menschen, die keine sonstigen Risikofaktoren haben, die also noch nie einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall hatten, nicht übergewichtig sind und nicht rauchen, bei Menschen also, die wegen eines leicht erhöhten Cholesterinspiegels solche Mittel einnehmen, das Risiko lebensbedrohlicher Krankheiten sogar steigt“, erläutert Dr. David Healy, Experte für Psychopharmaka.
In den USA wurden die Cholesterin-Richtlinien zuletzt 2001 in größerem Umfang überarbeitet. Von den 14 Mitgliedern der zuständigen Kommission, welche die Standardwerte neu festlegten, hatten neun finanzielle Beziehungen zu Pharmaunternehmen. Durch die Änderungen der Cholesterin-Richtlinien wuchs die Zahl der Amerikaner für die eine Statin-Therapie empfohlen wurde fast um das Dreifache. Von zuvor 13 Millionen Amerikanern waren durch die Änderungen plötzlich 36 Millionen potenzielle behandelbare Fälle entstanden. Dabei litten die meisten dieser Menschen gar nicht an Herzerkrankungen.
Das Thema Cholesterin ist mittlerweile im Bewusstsein der Menschen allgegenwertig. Selbst Margarine hilft ja schon den Cholesterinspiegel zu senken. Die Werbebotschaften sind eindeutig. Das Senken des Cholesterinspiegels kann sich positiv auf Herz und Blutgefäße auswirken. Die Industrie spricht die Menschen direkt als Verbraucher und potenzielle Patienten an und sie wendet sich an die Ärzte. Die allgegenwärtige Botschaft „Achten Sie auf Ihren Cholesterin-Spiegel“ soll jedermann dazu anhalten, ständig über seinen Cholesterinwert und –spiegel bescheid zu wissen.
„Das führt dazu, dass Ärzte den Cholesterinspiegel ihrer Patienten überprüfen und diese ihn auch darum bitten. Falls er zu hoch ist, sagt der Arzt oft: ‘Ihre Cholesterinwerte sind leicht erhöht, kommen sie nochmal in drei Monaten. Bis dahin achten sie auf etwas mehr Bewegung und stellen Sie ihre Ernährung um. Dann überprüfen wir ob ihre Werte gesunken sind. Falls ja, ist keine weitere Behandlung mehr notwendig‘. Sehr oft lässt aber selbst eine gesündere Lebensweise den Cholesterinspiegel gar nicht so stark sinken. Dann sagt der Arzt: ‘Leider sind ihre Werte nicht besser, deshalb verschreibe ich Ihnen jetzt was, dann müssen Sie sich keine Gedanken mehr machen‘. Aber damit liegen sie komplett daneben. Wer sich nämlich mehr bewegt und sich gesünder ernährt senkt das Risiko einer Herzerkrankung bis zu 80 Prozent. Diese Maßnahme ist therapeutisch hoch effektiv. Sagt aber der Arzt wir geben Ihnen ein cholesterinsenkendes Mittel, dann müssen sie sich keine Gedanken mehr machen, setzt er völlig falsch an. Der Patient hat ja erfolgsversprechende Maßnahmen ergriffen. Sein Arzt hingegen nimmt gar nicht war, dass die Umstellung zwar nicht den Cholesterinwert gesenkt hat, aber trotzdem das Risiko einer Herzerkrankung gesunken ist“, sagt Dr. John Abramson, Gerichtsgutachter.
Viagra hat sich durch Marketing-Strategien auch von einem „alte Männer“ Medikament zu einer Gesellschaftspille für alle Altersgruppen entwickelt. Um in den „prüden“ USA Viagra gesellschaftsfähig zu machen, wurde der ehemalige Präsidentschaftskandidat Bob Doyle in einer Kampagne strategisch geschickt eingesetzt. Doyle sprach in dieser Kampagne über seine Prostata-Erkrankung und die damit einhergehenden Erektionsstörungen. In der Kampagne wurde kein Präparat gezeigt, dennoch wurde Doyle mit Viagra assoziiert. Perfekter hätte die Kampagne nicht laufen können. Es brauchte für dieses Tabu-Thema das richtige Gesicht in herausragender Position. Bob Doyle ist allgemein angesehen und zugleich ein konservativer. Als die Leute sahen wie ein Senator aus dem Süden der USA, ein Kriegsveteran, ein allgemein angesehener Mann über Erektionsstörungen sprach, waren sie beeindruckt. Wenn also Bob Doyle den Mut hat darüber zu reden, dann ich auch, dachten sich viele. So wurde aus dem Tabu-Thema Viagra praktisch über Nacht ein gesellschaftsfähiges Präparat.
Genau wie beim Cholesterin hat es die Pharmaindustrie mit der Zeit geschafft, den Männern einzureden, dass eine Erektionsstörung, die Erektile Dysfunktion, vorliegt, wenn der Penis nicht rund um die Uhr zu 100 Prozent steif wird. Eine Dysfunktion ist eine Krankheit und muss folglich behandelt werden. Selbst jugendlichen wird suggeriert, wenn nicht immer alles absolut perfekt läuft, sind sie krank. Zum Glück gibt es passende Mittel dagegen.
„Kürzlich sah ich im Sportteil einer Sonntagszeitung eine Ganzseitige Anzeige für Cialis, ein Mittel gegen Erektionsstörungen, ähnlich wie Viagra. Es gibt da eine weitere Vermarktungsmethode für Mittel die man gelegentlich oder sogar regelmäßig durchaus mit Nutzen einnehmen kann, wie etwa ein Mittel gegen Erektionsstörungen. Will jemand intim werden, nimmt er einfach vorher Viagra oder Cialis. Diese Anzeige enthielt zweierlei. Erstens war sie zugleich ein Coupon – schneiden Sie den Coupon aus, legen Sie ihn ihrem Arzt vor, um Cialis kostenlos zu testen. Da werde ich hellhörig. Hier wird der Verbraucher dazu bewegt, sich über sein Problem Gedanken zu machen. Das erweitert den Markt. Zweitens stand da noch ‘täglich Cialis und Sie sind allzeit bereit‘. Das zielt auf das bekannte Männer-Klischee ab. Sei allzeit bereit, man weiß ja nie was sich ergeben könnte. Besser man hat sein Cialis schon intus. Das nenne ich geschicktes Marketing. Das führt zur Dauermedikation“, sagt Michael Oldani, ehemaliger Pfizer-Vertreter und Anthropologe.
Die Pharmaindustrie scheut auch nicht davor zurück über die Jahrzehnte aus den gleichen Symptomen verschiedene Krankheiten zu entwickeln. Die Depression, besonders die sogenannte typische Depression, ist ein gutes Beispiel dafür. In den 60er und 70er Jahren war Angst eine allgegenwärtige Diagnose. Ärzte diagnostizierten schnell eine Angststörung, wenn ein Patient etwas weinerlich und müde, zugleich nervös und ängstlich war. Irgendwie hatten zu dieser Zeit fast alle irgendeine Angststörung. Präparate waren schnell zur Hand. Das waren Medikamente wie Benzodiazepam, Librium oder Valium. Die Pharmaindustrie vermarktete Angst.
In den 80er Jahren kamen Benzodiazepine wie Librium oder Valium aber zunehmend in den Ruf abhängig zu machen. Viele Patienten wollten daraufhin diese Präparate nicht mehr. Selbst die Ärzte wollten ihren Patienten nicht unbedingt etwas verschreiben was süchtig macht. Vor allem nicht, wenn es sich nicht um eine schwere psychische Erkrankung handelt. Der Markt hat sich plötzlich verändert und die Depression gelangte in den Fokus der Pharmaindustrie. Also begann die Industrie den Menschen die bis dahin als angstgestört galten einzureden, dass sie nicht an einer Angststörung litten, wie sie geglaubt hatten, sondern dass sie depressiv sind. Die Ursache waren niedrige Serotoninwerte, doch glücklicherweise ist dies mit Medikamenten leicht behandelbar. Die Pillen erhöhen einfach den Serotoninwert im Gehirn.
„Die Symptome sind für jedermann zu erkennen. Depression wird anhand einer Liste von neun Symptomen definiert und gilt als gegeben, wenn fünf der Symptome mindestens für zwei Wochen auftreten. Dazu gehören Traurigkeit, Unfähigkeit sich an etwas zu erfreuen, Erschöpfung, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, mangelnde Konzentration bei alltäglichen Aufgaben oder Rollen. Ferner auch das Nachdenken über den Tod sowie verminderte Mobilität, die sogenannte psychomotorische Retardierung und ähnliche Symptome. Es handelt sich also um Kriterien wie sie viele Menschen fühlen könnten. Viele könnten über einen Zeitraum von zwei Wochen an Erschöpfung oder Schlaflosigkeit leiden, traurig sein, das Interesse an ihren üblichen Aktivitäten verlieren und so weiter. Wichtig ist nur, dass nicht nur Ärzte in Kliniken diese Kriterien anwenden. Würden nur sie das tun, könnte man davon ausgehen, dass zumindest einige von Ihnen zwischen der normalen Reaktion auf einen Verlust, etwa des Arbeitsplatzes oder einer Liebe, und einer echten mentalen Erkrankung unterscheiden würden. Diese Kriterien gelten in unserer Kultur aber mittlerweile aber ganz offiziell als Definition mentaler Erkrankung. Fünf von neun Kriterien, das ist eher willkürlich. Menschen die weniger als fünf Kriterien erfüllen, können demnach an der Grenze zu einer Depression stehen, leicht Depressiv sein. In der Liste der Ärzte heißt es auch wirklich: ‘Wer weniger als fünf Symptome aufweist, hat vielleicht eine latente oder leichte Depression‘. Die Bezeichnungen variieren. Folgt man diesem Pfad gelangt man letztlich dahin, dass jede Phase der Traurigkeit oder ein Verlust potenziell als Erkrankung aufgefasst und fast automatisch medikamentös behandelt wird“, sagt Jerome Wakefield, Medizinische Fakultät, New York University.
Gegen Ende der 90er stand die Pharmaindustrie wieder vor einem Problem. Die Patente für die Gruppe selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, kurz SSRI, liefen aus. Mit der Depression würde sich nicht mehr viel Geld verdienen lassen. Hätten die Unternehmen in der Zwischenzeit wirkungsvollere Antidepressiva entwickelt, hätten diese die alten SSRI ersetzen können. Es wäre ein Einfaches gewesen zu sagen „Wir haben bessere Mittel gegen Depressionen entwickelt, behandeln sie die Patienten ab sofort damit“. Das Problem aber war, dass die Pharmaindustrie keine besseren Präparate als die bereits vorhandenen herstellen konnten. Also besannen sie sich auf die Strategie von vor 20 Jahren. Aus den Patienten mit Angststörung wurden Patienten mit Depression. Aus Patienten mit Depression sollten jetzt Patienten mit einer bipolaren Störung werden.
Bei manischer Depression tritt häufig eine euphorische Stimmung auf. Der Patient muss dann in eine Klinik und ist oft monatelang krank. Wer Depressiv ist, kann Phasen extremer Niedergeschlagenheit erleben. Das kann bis zum Selbstmord führen und der Patient kommt ebenfalls monatelang ins Krankenhaus. Für die Pharmaindustrie bedeutete der Wechsel von der Depression zur bipolaren Störung, dass sie nun auch die ganz normalen Stimmungswechsel einbeziehen konnte, denen wir alle unterworfen sind. Die Bipolar 1 Störung, wie man das nannte, entsprach ziemlich genau der klassischen manischen Depression. Es ist der Pharmaindustrie aber gelungen Studien zu präsentieren, die nahe legen, dass es auch eine Bipolar 2, 3 und 4 Störung und eine Bipolar Spektrum Störung gibt. Damit sind immer leichtere Formen und Verläufe der Krankheit gemeint. Am Ende stehen dann Zustände wie ich oder Sie sie haben, wenn sich unsere Stimmung im Laufe eines Tages aufhellt oder verdüstert. An einem Montagmorgen ist Ihre Stimmung vielleicht so wie bei vielen von uns Montagmorgens – schlecht. Im Laufe des Nachmittags sind Sie, wenn alles gut läuft, schon viel besser gelaunt. Wenn Sie ein Stimmungstagebuch führen, und die Industrie animiert die Menschen dazu, halten Sie das dort als Stimmungskurve fest. Dann wird man Ihnen und ihren Ärzten suggerieren, dass solche Kurven die innerhalb eines Tages von ganz unten nach ganz oben verlaufen, sind in Wirklichkeit frühe Formen einer bipolaren Störung. Und dann: Ja Herr Doktor, natürlich ist es gut die Krankheit in einem frühen Stadium zu behandeln, bevor Sie schlimmer wird und nicht mehr zu behandeln ist“, erklärt Dr. David Healy, Experte für Psychopharmaka.
Jerome Wakefield ist besorgt über die mögliche Entwicklung dieser Vorgehensweisen der Pharmaindustrie. „Infolge der Definitionen für diese Störungen und weil diese Medikamente so leicht zu haben sind, besteht mittlerweile ein enormer Druck. Die Menschen stehen unter dem Druck, sozial funktionieren zu müssen. Am besten rund um die Uhr. Tun sie das nicht, kommt es zu einem sogenannten Rollenverlust. Man geht dann von einer Störung aus und legt diesem Menschen nahe, sich sofort behandeln und etwas verschreiben zu lassen. Man könnte sicher darüber streiten, aber mir scheint wir sind auf dem besten Wege unseren Kindern und Enkeln eine Welt zu hinterlassen, in der die volle Freiheit für menschliche Gefühle verloren gegangen ist.“
Wie perfide die Marketingstrategien der Pharmaindustrie sind, zeigt wie in Japan die ganze Bevölkerung manipuliert wurde und glaubte plötzlich krank zu sein. Dies gelang mit einem Megamarketing-Projekt. Ein Megamarketing-Projekt will nicht nur die Meinung einzelner Menschen hinsichtlich eines Produktes beeinflussen, sondern das gesamte Umfeld verändern, um das Produkt zu platzieren. In Japan waren laut japanischen Psychiatern Depressionen eine seltene Erkrankung. Sie stellten die Diagnose nicht häufig. Also mussten die Pharmaunternehmen die Krankheit etablieren. Sie betrieben in hoch moralischem Ton Lobbyarbeit bei der japanischen Regierung und behaupteten die japanischen Patienten würden falsch behandelt.
Als nächstes galt es die Depression gesellschaftsfähig zu machen. Die Industrie finanzierte Anti-Stigmatisierungskampagnen, schließlich sollten die Japaner sich nicht schämen, wenn sie traurig waren oder wenn Ihnen schien, dass etwas nicht stimmte. Sie sollten sich ihrem Arzt anvertrauen anstatt aus Scham zuhause zu bleiben. Die Anti-Stigmatisierungskampagnen sollte die seelische Erkrankung als etwas Normales, alltägliches darstellen. Um den Japanern den Begriff der Depression näher zu bringen, wurden Interviews mit Prominenten und TV-Berühmtheiten veröffentlicht, und Artikel gesponsert, die groß in Zeitungen platziert wurden.
Das japanische Wort für Depressionうつ病 (Utsubyō) bezeichnet die typische Depression. Daher lancierten die Pharmaunternehmen eine Anzeigenkampagne mit einem Slogan der die Sache angenehmer klingen lies. Denn wenn die Leute den Begriff Utsubyō hörten, dachten sie gleich an Krankenhaus und sehr kranke Menschen. Also wurde der Begriff 心スニフ (KOKOROSUNIFU/ Schnupfen des Herzens oder Schnupfen der Seele) erfunden. Dies wurde auch im TV von einer Moderatorin einer Show erklärt: „Was Depression genannt wird ist in gewisser Weise ein Schnupfen der Seele. Jeder kann davon betroffen sein. Aber man kann von ihr genesen. Im Falle einer Depression gibt es ein hervorragendes Antidepressivum. Eines das sich bereits bewährt hat. Einer amerikanischen Studie zufolge ist dieses Antidepressivum in 65 Prozent der Fälle wirksam.“
„Bei diesem Begriff schwingen mehrere Bedeutungen mit. Zunächst einmal sind Erkältungen ziemlich alltäglich. Wer das hat gehört nicht zu den Irren, die man einsperren muss. Nur ein Schnupfen, dass haben viele. Und dann kann es eigentlich nicht so wild sein. Zweitens: Japaner nehmen sehr viele Antibiotika. Deshalb bedeutet es für sie auch eine Erkältung kann man behandeln, dagegen gibt es doch etwas. Schließlich ist die Seele etwas poetisches und das kam bei den Japanern sehr gut an. Es berührte sie emotional. Die Wahrnehmung wandelte sich danach tatsächlich stark. Die Menschen gewöhnten sich an die Vorstellung von einer leichten Depression, die nunmehr von Ärzten behandelt und von der Regierung als Tatsache anerkannt wurde. Die hatte zuvor nicht wahrhaben wollen, dass auch in Japan Menschen unter Depressionen litten oder höchsten ein paar wenige. Aber auch die Regierung hat bemerkt dass irgendetwas die Produktivität der japanischen Arbeiter ausbremste. Deshalb schien es plötzlich sinnvoll Depressionen zu behandeln. Eine wichtige Rolle spielte das Eingeständnis des Kaiserhauses, dass die Kronprinzessin an einer Depression leide und deswegen behandelt werde. Wer hätte einen noch prominenteren Fall liefern können? Höchstens noch der Kaiser selbst. Es war einfach ideal“, sagt Reinhard Angelmar, Marketingprofessor INSEAD, zu dem Megamarketing Projekt in Japan.
Hat die Pharmaindustrie erstmal ihren Fuß in der Tür, wird man sie nicht mehr los. In Japan gingen sie auf die Psychiater zu, sagten Ihnen, dass sie alles übernehmen. Es folgte der Werbefeldzug gegen Stigmatisierung, die Lobbyarbeit bei der japanischen Regierung, es wurden Studien durchgeführt und die Botschaft über alle nur erdenklichen Kanäle verbreitet. Die japanischen Psychiater und die Regierung glauben das richtige zu tun, aber ab einem gewissen Zeitpunkt gehen die Interessen auseinander. Diejenigen die kommerzielle Interessen verfolgen, wollen nicht aufhören bis wirklich jeder Mensch, ob Mann, Frau oder Kind, ihr Mittel einnimmt. Die Psychiater hingegen glauben nicht, dass wirklich jeder behandelt werden muss. Wenn die Maschinerie aber erstmal angelaufen ist, gibt es praktisch kein Halten mehr für die Pharmaindustrie. Gestoppt werden kann sie schon gar nicht mehr.
Ärzte in den USA können den Pharmakonzernen nicht aus dem Weg gehen, sie werden allgegenwärtig mit den Botschaften der Pharmakonzerne konfrontiert. Im Schnitt bekommen Ärzte zehn Besuche von Pharmareferenten in der Woche, die immer wieder dasselbe erzählen, ein manchmal 2 Stunden. Auch die medizinischen Zeitschriften, die überwiegend der Pharmaindustrie gehören, wiederholen ständig dasselbe. Sie werden auch von Medizin Kollegen mit derselben Botschaft konfrontiert. Die Meinungsführer, die großen Medizinprofessoren sind ein Sprachrohr der Pharmakonzerne. Sie reisen von Hörsaal zu Hörsaal und preisen die spektakulären und eindrucksvollen Erfolge dieses oder jenes Medikaments an. Natürlich gegen ein gewisses Entgelt.
„85 Prozent aller klinischen Studien und 97 Prozent der einflussreichsten werden bei uns (USA) von Unternehmen finanziert. Das sich das Präparat eines Sponsors als das Mittel der Wahl erweist, ist bei kommerziell finanzierten Studien fünfmal wahrscheinlicher als bei nicht kommerziell finanzierten Studien – zu genau denselben Mitteln. Kein schlechter Schnitt. Wir meinen immer wissenschaftliche Studien seien objektiv und unvoreingenommen. Aber wenn wir uns genau ansehen wie es läuft, dann finanzieren in Wirklichkeit die Unternehmen die Studien, um ihre Mittel besser verkaufen zu können. Die Firmen haben die Rechte an diesen Daten, so wie Coca-Cola das Recht auf das Coke Rezept besitzt“, so Dr. John Abramson, Gerichtsgutachter
Die Pharmakonzerne haben es sogar geschafft Ärzte mit ins Boot zu holen, die eigentlich gar keine Verbindung zu Ihnen hatten. Sogar die Ärzte die keinen Cent von Ihnen nehmen würden und eher feindselig gegen die Machenschaften der Pharmaindustrie eingestellt sind. Es gibt immer noch zahlreiche Ärzte die sich an die Fakten halten und sich eine eigene Meinung bilden wollen, je nach Beweislage. Das Problem ist nur, dass die Pharmaindustrie die Nachweisführung zunehmend in der Hand hat und kontrolliert. In den USA kontrolliert sie nahezu alle klinischen Studien.
„In den Jahren 1980 bis 1982 haben wir als Studenten stundenlang klinische Studien auseinandergenommen. Wir durchforsteten sie nach statistischen Fehlern und Messergebnissen, die nicht zur Klärung der Fragen beitrugen, um die es eigentlich ging. Auf einmal stießen wir auf viele problematische Details. Aber ich kann mich auf keinen einzigen Fehler erinnern, von dem wir annahmen, dass er auf eine finanziell bedingte Voreingenommenheit beruhte. Natürlich ist die Wissenschaft nicht perfekt. Aber so etwas haben wir damals nicht entdeckt. Unsere Professoren hatten auch keine Verbindungen zu Pharmaunternehmen. Das wäre für einen Professor undenkbar gewesen. Der Gedanke war schlicht absurd. Heut stößt man unentwegt auf bedenkliches. Hätte man eine Zauberbrille und würde man die renommierten Professoren in ihren weißen Kitteln die Klinikgänge herunterkommen sehen, würden sie wirken wie Formel 1 Fahrer. Nur das Sie nicht penzoil und mobile Benzin sagen, sondern Merck und Pfizer, Amgen Pharma und Gemzyme, weil sie von denen gesponsert werden. Alle Professoren haben solche finanziellen Verbindungen“, sagt Dr. John Abramson, Gerichtsgutachter.
Das Internet ist ebenfalls ein Instrument, das die Pharmakonzerne gerne nutzen, um direkt ihre potenziellen Verbraucher zu beeinflussen. Viele Menschen nutzen das Internet, um sich medizinische Informationen zu beschaffen. Es ist ein leichtes direkt auf medizinische Zeitschriften zugreifen, sich Webseiten zu bestimmten Krankheiten ansehen oder sich in Online-Foren Rat einzuholen. Für manche ist es sogar unabdingbar sich vor dem Arztbesuch hinreichend informiert zu haben. Der Gang zum Arzt ist für manche nicht mehr dazu da sich Rat einzuholen, sondern mit dem Arzt über die mögliche Behandlung zu verhandeln und einen Behandlungsplan aufzustellen. Was aber die meisten User unbewusst ignorieren ist, dass es im Internet besonders leicht ist zu verheimlichen, woher die Informationen stammen.
„Stellen wir uns mal folgendes vor: Gerade war ich bei meinem Doktor, seit Jahren schlepp ich mich mit Rückenschmerzen herum. Morgens komm ich kaum hoch, ich hab das Gefühl ich bin total eingerostet. Ich brauche eine Stunde bis ich mich wieder frei bewegen kann. Die heiße Dusche hilft da nicht viel. Und während der Fußball WM sehe ich dann im Fernsehen diesen Spot mit Frank Leboeuf und erfahre, dass dieser Rückenschmerz eine Spondylitis Ankylosans (Morbus Bechterew) ist und dagegen gibt es ein Medikament. Was mach ich also? Ich schaue in meinem geliebten Internet nach. Ich tippe den Namen dieser Kampagne ein, den kann man sich ja leicht merken „Dos au mur“ – Mit dem Rücken zur Wand“, sagt Antoine Vial von der französische Gesundheitsbehörde.
Auf der Webseite gibt es auch einen „Erfahrungsbericht, von einem Tony, 37 Jahre alt,der über seine Krankheit, die Spondylitis Ankylosans spricht. „Wenn ich da weiter zuhöre, erzählt er mir von seinen Rückenschmerzen und beschreibt genau seine Symptome. Abends ist er müde – ja, bin ich auch. Morgens kann er sich kaum frei bewegen, ja kann ich auch nicht – kurz, ich erkenn mich in seinem Bericht gut wieder. Also will ich mehr wissen“, so Antoine Vial. Auf der Webseite mit der Kampagne um den Nationalfußballspieler Le Beouf kommt auch der Arzt Professor René-Marc Flipo von der Französischen Gesellschaft für Rheumatologie zu Wort. Er spricht über die Verantwortung seiner Institution nicht nur in den Labors wissenschaftliche Arbeit, sogenannte Basisarbeit, zu leisten, sondern auch die Aufgabe zu übernehmen sich an Aktionen zu beteiligen, die zur besseren Kenntnis im Bereich der rheumatischen Erkrankungen führen.
„Die wissenschaftliche Gesellschaft, das klingt seriös, aber ich sehe da was und staune. Hinter diesem Herrn, der Professor an einer öffentlichen Klinik ist, steht auf einer Wand Pfizer und zwar oben rechts und unten links. Das ist lustig. Ein befreundeter Marketingfachmann hat mir nämlich erklärt, dass dies die beiden wichtigsten Punkte in einem Bild sind, wenn in der Mitte eine Person steht. Dann ist dieser Bildausschnitt vielleicht kein Zufall. Aber was erzählt mir dieser Doktor da eigentlich? Ich fasse zusammen: Über 50.000 Menschen sind davon betroffen. Es sind junge Menschen und die Anzeichen sind letztlich ziemlich banal. Aber er macht mir ja auch richtig Angst. Er sagt meine Geschichte kann zu schwerwiegender Invalidität führen. Sagt aber auch, es betrifft nur wenige, bei denen es zu schwerwiegenden Behinderungen kommen kann. Aber es gibt ein Mittel dagegen und das wird komplett von der Kasse übernommen. Das Problem ist, das Medikament hat erhebliche Nebenwirkungen, die man noch nicht gut analysieren kann, weil es noch nicht lange genug eingesetzt wird. Allerdings wird vermutet, dass dieses Medikament das Herz-Kreislaufsystem belastet und dass es zu Krebs führen kann. Was nicht gesagt wird – pro Behandlung kostet es etwa 2.000 Euro“, erklärt Antoine Vial. So schnell wird aus einfachen Rückenschmerzen die rheumatische Erkrankung Spondylitis Ankylosans.
Wie einfach es die Pharmakonzerne haben, hat die Initiative „gesunde Skepsis“ aus den Niederlanden eindrucksvoll gezeigt. Die Initiative beobachtet wie die Pharmaunternehmen Lobbyarbeit betreiben, wie sie Präparate vermarkten und versuchen die Öffentlichkeit, die Ärzte, die Regierung und die Medien zu beeinflussen. Das Ziel der Initiative ist es die Menschen dazu zu bringen vernünftiger mit Medikamenten umzugehen. „Zusammen mit der Verbrauchersendung Radar erdachten wir eine Pseudokrankheit. Wir wollten zeigen wie Pharmaunternehmen Kampagnen lancieren, um bestimmte Krankheiten ins Bewusstsein zu bringen und entsprechende Produkte zu vermarkten. Dafür beauftragten wir eine Agentur für Marktforschung. Wir arbeiten für ein großes Pharmaunternehmen, dass ein neues Mittel gegen Blähungen auf den Markt bringen wird. Wir brauchten eine Marktanalyse, um herauszufinden wie verbreitet das Problem ist“, erklärt Sandra van Nuland vom niederländischen Institut für verantwortungsvollen Arzneimittelgebrauch.
Die Ergebnisse der Analyse: Jeder vierte hat mit Blähungen zu kämpfen. 86 Prozent davon leiden unter Trommelbauch, Magenkrämpfen oder Übelkeit. 75 Prozent haben psychische Probleme, schämen sich etwas oder sind unsicher. 76 Prozent waren nie beim Arzt wegen ihrer Blähungen. Mehr als die Hälfte würde ein Medikament nehmen.
„Wir entwarfen ein Prospekt auf dem eine sympathische junge Dame mit Luftballons zu sehen war. Das schien uns gut zu passen, weil Blähungen ja mit Luft zu tun haben und weil es nett aussieht. Genauso machen es die Pharmaunternehmen. Sie zeigen Patienten die glücklich wirken, weil ihr Problem gelöst ist. Bei Ärzten fragten wir an, ob wir unser Prospekt ins Wartezimmer legen dürften. Damit waren sie einverstanden. Sie fanden die Kampagne toll und fragten gar nicht, wer denn dahinter stehe. Ob das von einem Pharmaunternehmen ausgehe oder einer Patienteninitiative. Das war Ihnen egal. Das Faltblatt gefiel Ihnen, wir konnten es mitsamt unseren Plakaten im Wartezimmer verteilen. Wir drehten auch Videos über Menschen die an Blähungen litten. Wir wandten uns außerdem an verschiedene Fernsehprogramme, an Seifenopern aber auch an Informationssendungen und fragten an, ob es möglich sei dem Thema Blähungen etwas Aufmerksamkeit zu widmen. Sie sagten zu. Bei Gute Zeiten Schlechte Zeiten, das in den Niederlanden sehr populär ist, mussten wir 50.000 Euro bezahlen. Eine der Hauptfiguren in der Soap, ein Mann, sprach dann mit der Ehefrau über seine Probleme mit Blähungen. Sie riet ihm zum Arzt zu gehen. Dann wurde er im Wartezimmer beim Arzt gezeigt und dort hingegen die Plakate unserer Kampagne“, so Sandra van Nuland. Es ist also gar nicht so schwer ein Leiden zu kreieren und eine medikamentöse Behandlung zu etablieren. Ein Leiden, welches eigentlich keine richtige Erkrankung ist und aufgrund definierter Symptome dennoch ein Großteil der Bevölkerung darunter leidet.
Für die Pharmaindustrie kann es aber noch einen Schritt weiter gehen. Die Polypille passt nur zu perfekt in die Absichten der Pharmakonzerne. „2003 wurde in einer Sonderausgabe des British Medical Journal die Polypille angekündigt. Ein Vorwort des Herausgebers deutete an, dies sei der wichtigste Artikel, den die Zeitschrift je veröffentlicht habe und vielleicht je veröffentlichen werde. Große Worte, wenn man bedenkt, dass die Polypille damals eine rein theoretische Angelegenheit war. Die Autoren des Artikels schlugen vor, künftig nicht mehr systematisch Blutdruck, Cholesterinspiegel, Diabetesrisiko und sonstige Werte vorsorglich zu prüfen und daraus abzuleiten ob etwas verschrieben werden sollte. Stattdessen sollte einfach der gesamten Bevölkerung ab einem bestimmten Alter eine Pille gegeben werden, die aus Wirkstoffen gegen all diese Krankheiten gleichzeitig bestünde. Die Polypille, lediglich ein theoretisches Konzept, sollte daher ein Diuretikum, ein Beta-Blocker, ein ACE-Hemmer, Folsäure und Aspirin enthalten. Dahinter steckte die Idee, die Einnahme jeder dieser Wirkstoffe geht mit möglichen Nebenwirkungen einher, gleichzeitig kann jeder der Wirkstoffe prophylaktisch von Nutzen sein. Durch ein ausbalancieren der Risiken, wäre es dem damaligen Artikel zufolge möglich, die Zahl der durch Herz und Gefäßkrankheiten ausgelösten Todesfälle um rund 88 Prozent zu senken. Nur weil man der gesamten Bevölkerung über 50 diese Pille verabreichen würde. Die Polypille klang wie von Orwell persönlich erfunden und rief sofortige Begeisterung hervor. Hunderte Menschen schrieben Mails an die Fachzeitschrift und erklärten, wenn es so eine Pille gebe, würden sie sie sofort nehmen. Andere sagten, warum nur eine einzige Polypille, denkbar wäre doch auch eine speziell für Männer mit Mitteln gegen Prostataerkrankungen und eine für Frauen mit Tamoxifen, um das Brustkrebsrisiko zu senken“, sagt Dr. Jeremy Green, Medizinhistoriker von der Harvard University.
Bleibt zu hoffen, dass die Polypille sich nie durchsetzt und vor allem nicht „verpflichtend“ wird. Denkbar ist durchaus, dass Krankenkassen oder Krankenversicherungen dies als prophylaktische Maßnahme verlangen. Die Menschen, Ärzte, Medien und Regierungen sollten sich ein Zitat von dem Psychiater und Arzt Philippe Pinel über die Heilkunst vor Augen halten. „Es ist eine große Kunst ein Mittel zu verabreichen, um eine Krankheit zu behandeln. Aber die größere Kunst ist zu wissen, wann auf eine Behandlung verzichtet werden kann“.