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Die Wasserflaschen-Gesellschaft

Im FocusDie Wasserflaschen-Gesellschaft

Wie uns multinationale Konzerne ausbeuten und uns unser Eigentum teuer verkaufen

Wenn darauf geachtet wird, dauert es nur wenige Sekunden, um es zu erkennen: Wir sind zu einer Wasserflaschen-Gesellschaft verkommen. Egal ob in Berlin, Hamburg, München, Köln oder in den Städten unserer europäischen Nachbarn – Menschen mit Wasserflaschen in der Hand, am Körper oder an der Tasche sind überall. Auf den ersten Blick sieht es nach einer gesundheitsbewussteren Gesellschaft aus als noch vor wenigen Jahrzehnten, in denen Coca Cola und andere Softdrinks dem Trend entsprachen. Sicherlich ist Wasser das gesündere Getränk im Vergleich zu den stark gezuckerten oder mit Chemie gesüßten Softdrinks.

Dennoch ist der Gesellschaftstrend Wasserflasche alles andere als gut – im Gegenteil. In den letzten zehn bis zwanzig Jahren ist ein Milliardenmarkt entstanden, der auf Ausbeutung von Wasserressourcen, Umweltverschmutzung, energischen gerichtlichen Klagen gegen Gemeinden und Bürger und Manipulation der Konsumenten durch aggressives Marketing basiert. Der größte Lebensmittelkonzern der Welt und gleichzeitig das größte Flaschenwasser-Unternehmen der Welt Nestlé ist nur einer der Global Player in diesem Milliarden-Markt. Selbst die Softdrink-Giganten Coca Cola und Pepsi haben erkannt, dass in Zukunft mehr Umsatz und mehr Profit mit Wasser in Flaschen erzielt werden kann als mit der Softdrink-Sparte, weshalb diese Unternehmen ebenfalls sehr engagiert in die Sparte Flaschenwasser investieren und sich Marktanteile sichern.

Wie profitabel dieses Geschäft weltweit ist, belegen die Zahlen von Nestlé. Der Gesamtumsatz von Nestlé konnte im ersten Quartal 2013 um 5,4 Prozent gesteigert werden. Allein Nestlé Waters mit allen Wassermarken weltweit konnte einen Umsatz von 7,2 Milliarden Schweizer Franken erzielen, was einem organischen Wachstum von 6,4 Prozent und einem Realwachstum von 4,9 Prozent entspricht. In der offiziellen Pressemitteilung wird deutlich, welches Potenzial im weltweiten Ausbau des Flaschenwasser-Marktes noch besteht: „Nestlé Waters erzielte weiterhin eine gute Leistung. In den Industrieländern konnten die Positionen in Nordamerika und Europa ausgebaut und in den aufstrebenden Märkten die Präsenz verstärkt werden. Das Geschäft profitierte vom starken Umsatz von Premiummarken wie S. Pellegrino und Perrier.

Die weltweite Führungsposition von Nestlé Pure Life konnte mit einem starken zweistelligen Umsatzwachstum bekräftigt werden. Unsere Kampagne für gesunde Flüssigkeitszufuhr ist für das Wachstum der Kategorie Flaschenwasser zentral. In Nordamerika profitierten regionale Marken wie Poland Spring, Ice Mountain oder Zephyrhills vom Wachstum der Kategorie. Das Home-&-Office-Geschäft erzielte auch eine gute Leistung. In Europa konnte die gute Leistung des Geschäfts in Frankreich und Großbritannien das geschwächte Umfeld in Südeuropa kompensieren. Das Geschäft in den aufstrebenden Märkten wuchs dynamisch, mit zweistelligem Wachstum unter anderem in der Türkei, in Ägypten, Mexiko und Thailand. Die operative Ergebnismarge von Nestlé Waters konnte aufgrund des Wachstums des Geschäfts und hoher Effizienz in den Herstellungs-, Einkaufs- und Vertriebsprozessen gesteigert werden.“

Der Schweizer Konzern ist zufrieden. Mit Pure Life hat das Unternehmen das weltweit meistverkaufte Flaschenwasser und mit Poland Spring in den USA eine bei den Konsumenten absolut beliebte Marke etabliert. Wie wichtig Wasser für Nestlé ist, bekräftigte auch der Verwaltungspräsident von Nestlé bei einer Aktionärsversammlung: „Ohne Wasser gibt es keine Nachhaltigkeit für unser Unternehmen und unsere Aktionäre. Wasser muss deshalb unsere höchste Priorität sein. Die fortwährende Verfügbarkeit von Wasser ist der Schlüssel für unser anhaltendes Wachstum und für unsere Fähigkeit, Konsumentenbedürfnisse weltweit zu befriedigen. Bei Nestlé glauben wir, um nachhaltigen Erfolg zu haben, muss man gleichzeitig Werte schaffen für die Aktionäre und die Öffentlichkeit. Wir nennen das ‚gemeinsame Werte schaffenʼ. Das ist ein fundamentales Prinzip für die Art, wie wir bei Nestlé Geschäfte betreiben. Unser Report zur unternehmerischen Sozialverantwortung ist genau so dick wie unser Finanzbericht. Ich glaube, das ist ein gutes Gleichgewicht“, so Peter Brabeck-Letmathe. Die Zukunft von Nestlé steckt also im Wasser, und der Konzern bekräftigt, dass Profite machen und Sozialverantwortung Hand in Hand gehen – das Schaffen von gemeinsamen Werten. Nestlé engagiert sich auch sozial, allerdings stellt sich die Frage, ob es hierbei nur zur Verbesserung des Images dient oder dem Konzern wirklich etwas an den Menschen liegt.

Sozialverantwortung

Genau das wird im Dokumentarfilm „Bottled Life“ von Urs Schnell in Frage gestellt. Nestlé unterstütze in Äthiopien ein Flüchtlingslager der UNO im Zuge ihrer selbstauferlegten Sozialverantwortung, lässt der Verwaltungspräsident von Nestlé Peter Brabeck-Letmathe in einem YouTube-Video verlauten. Nestlé könne „dem äthiopischen Volk Gutes tun in einer Weise, wie es für die UNO oder Nestlé alleine nicht möglich ist. Sauberes Trinkwasser ist eine Frage von Leben und Tod. Indem wir das Wissen der Nestlé-Geologen mit der Felderfahrung des UNHCR kombinieren, sicher wir den Zugang zu sauberem Wasser für Zehntausende von Menschen. Das gilt nicht nur für heute, sondern für viele weitere Jahre.“ In dem Flüchtlingslager mit etwa 20.000 Menschen gibt es einen Grundwasserbrunnen und nur eine Leitung. Dazu ist das Wasser sehr eisenhaltig, weshalb die Pumpen relativ schnell kaputt gehen. In dem kleinen Wasserwerk stehen drei Pumpen, die das Wasser zur Zwischenstation befördern. Allein in den letzten vier, fünf Jahren hatte der Programmverantwortliche der UNHCR viele Probleme mit dem Unterhalt der Pumpstation. Dass überhaupt noch Wasser fließt, ist der Unterstützung des Lazarus-Ordens zu verdanken, denn Nestlé hat sein Engagement zurückgezogen. Nestlé hilft „jetzt nicht mehr. Diese neuen Pumpen stammen von 2007 und 2008. Nestlé hat uns bis 2004 unterstützt, seither begleiten sie das Projekt nicht mehr. Wir müssen weiterhin sicherstellen, dass unsere Leute Wasser erhalten. Wir haben Flüchtlingslager in Kebribeyah, Aw Bare und Sheder. Hier sind 35.000 Flüchtlinge von der Versorgung durch das UNHCR abhängig. Wir brauchen dringend Unterstützung von Organisationen und Spendern“, erklärt Bekele Negash, Programmverantwortlicher UNHCR in „Bottled Life“.

„Den Wasserfirmen geht es nur um eines, und das ist Profit. Manchmal beteiligen sich an einem solchen Projekt. Das ist ein Marketing-Instrument. Wir kritisieren sie weltweit, und sie versuchen, ihr Image zu erneuern. Sie bleiben nicht langfristig, außer es ist profitabel. Das ist ein multinationales Unternehmen im Wettbewerb. Sie engagieren sich nicht aus humanitären Gründen. Sie gehen nicht hin aus humanitären Gründen. Und sie bleiben nicht aus humanitären Gründen“, bringt es Maude Barlow, UNO-Chefberaterin für Wasserfragen (2008/2009), in dem Film auf den Punkt.
Vielleicht ist Nestlé nicht ganz so engagiert in humanitären Projekten wie im Ausbau des Marktes. Im Wasser liegt die Zukunft für das Unternehmen. „Je mehr ich nachgedacht habe, was ist eigentlich der einzige wichtige Faktor, dass eine Firma noch einmal 140 Jahre bestehen kann, bin ich ganz klar aufs Wasser gekommen“, so Peter Brabeck-Letmathe. Überall auf der Welt versucht Nestlé sich Vorkommen von gutem und sauberem Wasser zu sichern.

Neue Quellen

So hat Nestlé im wasserreichen US-Bundesstaat Maine ein ganzes Team von Geologen ausgesandt, um gute Quellen und Grundwasserspeicher zu finden. Das Unternehmen kauft dann den Grundeigentümern die Wasserrechte ab oder kauft gleich selbst ganze Quellgebiete wie in der Umgebung von Fryeburg. In Fryeburg wird Wasser für die beliebte Marke Poland Spring von Nestlé abgepumpt und abgefüllt. Allein aus einer Pumpstation pumpt Nestlé täglich eine Million Liter Wasser in Tankwagen. Bei einem Fassungsvermögen von 30.000 Litern sind das 33 Tankwagen pro Tag und rund 25.000 Fahrten pro Jahr. Von der Quelle bis zur Abfüllfabrik sind es etwa eine Stunde Fahrt. Die Anwohner wehren sich gegen die Ausbeutung ihrer Wasserressourcen, die Auswirkungen auf den ökologischen Haushalt, die zusätzliche Belastung durch den Tanklastwagenverkehr und die Verschlechterung ihrer Lebensqualität. Einen Bürgerprotest gab es, als Nestlé eine zweite Pumpstation errichten wollte, um die Förderung zu verdoppeln. Die Gemeinde Fryeburg hat das abgewiesen, doch ein „Nein“ wird von Nestlé nicht akzeptiert. Das Unternehmen hat dann einfach die Gemeinde verklagt. „Die Verladestation für dieses Wasser ist wichtig für ihr Wachstum. Es ist wichtig für die Abfüllfabrik, nehme ich an. Das wirft die Frage noch stärker auf: Wem gehört das Wasser? Wenn ich ein Haus neben deinem Haus habe, und ich pumpe von meinem Land, wo ist dann die Grenze, wo ich auch das Wasser meines Nachbarn mitpumpe? Jetzt ist es so: Die Öffentlichkeit hat nein gesagt, die Planungskommission hat nein gesagt und die Beschwerdekammer auch. Und Nestlé klagt einfach weiter. Zum letzten Mal vor zwei Wochen – gegen die Bewohner der Stadt Fryeburg“, erklärt Emily Fletcher, Einwohnerin und Bibliothekarin aus Fryeburg gegenüber „Bottled Life“.

Für Nestlé ist der Standort ideal, denn „im Staat Maine kannst du so viel Wasser pumpen, wie du willst. Die Grundlage ist ein altes Gesetz aus der Pionierzeit, das für Menschen gemacht wurde, die eine Farm betrieben und Wasser brauchten, für sich selbst und um das Land zu bewirtschaften. Das Spielfeld, auf dem sich Nestlé bewegt, besteht aus Gesetzen, Prozessen, Klagen und Vorschriften. Nestlé ist sehr beschlagen darin, mit Vorschriften umzugehen und Vorschriften so zu ändern damit die Firma ihre Zwecke und Ziele erreicht“, erklärt Michael Dana, Bewohner und Multimedia-Künstler aus Fryeburg.

Poland Spring ist in den USA mittlerweile das meistverkaufte Quellwasser. Nestlé hat in Maine drei Fabriken, welche den „Durst“ der Flaschenwasser-Gesellschaft stillen. In dem Ort Kingfield sind die knapp 1.000 Anwohner sehr zufrieden, dass ein multinationaler Konzern wie Nestlé sich dort niederlässt und neue Arbeitsplätze schafft. Die Gemeindeverordnung erlaubt dem Schweizer Konzern, jährlich 750 Millionen Liter Wasser abzupumpen. „Ich habe sie sehr gern in der Stadt. Sie sind gute Nachbarn. Sie bringen uns wirtschaftliche Stabilität zurück. Nestlé zahlt anständig Steuern, hat anderen Gemeinden in der Gegend geholfen und auch den Schulen und dem Schulkreis. Sie haben Beiträge an Vereine und Gemeindeorganisationen bezahlt. Wir hatten einen 25 Jahre alten Spielplatz, der nicht mehr sicher war. Sie waren ein großer Spender, sodass wir jetzt einen modernen Spielplatz haben“, erklärt John Dill, ehemaliger Gemeinderatspräsident von Kingfield im Film.

Nestlé zahlt zwar Steuern, aber das Wasser kostet das Unternehmen nichts, „denn wer das Land besitzt, der besitzt nach dem Gesetz von Maine auch das, was sich unter dem Land befindet. Die Gemeinde besitzt das Land nicht, darum konnten wir das Wasser nicht verpachten. Alles, was wir können, ist eine Grundstückssteuer zu erheben. Nestlé ist Teil dieser Stadt. Sie haben alles getan, worum wir sie baten. Und noch mehr dazu. Sie waren bis heute gute Nachbarn“, so John Dill weiter.
Im Naturschutzgebiet Shapleigh/Newfield, 200 Kilometer südlich von Kingfield, sind die Nestlé-Geologen ebenfalls auf gutes Wasser gestoßen. Eine kleine Gruppe Frauen kämpft gegen den Weltkonzern, um das Naturschutzgebiet zu erhalten. „Ich kämpfe für den Schutz des Wassers, weil wir hier einen großen Grundwasserstrom haben. Wir sorgen uns sehr darum, was damit geschieht. Nestlé kam vor drei Jahren in dieses Gebiet. Wir wussten von nichts. Wir entdeckten Bohrlöcher und begannen zu kämpfen, um unsere Kontrolle über dieses Gebiet zu behalten“, erklärt Ann Winn-Wentworth, Vorsitzende Republikanische Partei York County. Die Erlaubnis für die Bohrungen bekam Nestlé von der Fischerei- und Wildtierbehörde, und so waren bereits 18 Bohrlöcher im Boden, bevor die Anwohner etwas mitbekamen.

Wenn es um Kompromisse geht, ähnelt das Verhalten von Nestlé nicht dem eines guten Nachbarn. „Wir dachten, wir können mit denen zusammenarbeiten bei der Verordnung, die sie dann brauchen. Wir verlangten nur ein paar Dinge. Wären sie uns entgegengekommen, hätten wir wohl gesagt, ja, wir haben gute Arbeit geleistet, hätten die Anzahl der Lastwagenfahrten beschränkt oder die Zeit, während der sie pumpen dürfen, und so. Aber sie gaben keinen Fußbreit nach“, so Denise L. Carpenter, Mitglied Planungskommission Newfield, und Shelly Gobeille ergänzt: „Wir versuchten, die Vorschriften in unseren beiden Städtchen mit den Gemeindevertretern zusammen zu überarbeiten. Wir waren um die vierzig oder fünfzig Leute. Sie gingen auf keine unserer Forderungen ein. Wir begannen dann zu verstehen, dass diese Sache durchgehen würde wie diejenige mit den Probebohrungen.“ Sogar die Person, welche die Gemeindeverordnung schrieb, wurde von Nestlé empfohlen.

Wie wichtig der wasserreiche Bundesstaat Maine ist, verdeutlichen einige Zahlen. In Hollis, Maine, steht die größte Flaschenwasserfabrik der Welt. Die Hälfte pumpt Nestlé direkt aus den Quellen der Fabrik, und die andere Hälfte wird mit Tanklastern aus dem Umland beschafft. Der Einkaufspreis für eine Wagenladung liegt bei wenigen Dollar, aber abgefüllt in Flaschen über den Ladentisch sind es rund 50.000 Dollar. Nestlé pumpt jährlich etwa drei Milliarden Liter Wasser ab – so viel wie die gesamte Landwirtschaft in Maine. Der Durst von Nestlé ist aber noch lange nicht gestillt. „Die Marke Pure Life hat vor zehn Jahren noch gar nicht existiert. Es ist eine unglaubliche Geschichte. Pure Life startete bei Null. Heute ist es eine der wichtigsten Marken von Nestlé. Einer der Gründe für dieses Wachstum: Wir bieten dem Konsumenten einen Wert, ein Qualitätswasser, erhältlich in verschiedenen Teilen der Welt. Das kommt sehr gut an. Wir möchten mit dieser Marke in weitere Länder expandieren. Wir denken, das Wachstum wird anhalten. Für Nestlé ist es eine profitable Marke. Pure Life ist ein Juwel in unserem Portfolio. Wir planen, das noch zu steigern. Ich bin sehr zuversichtlich für diese Marke“, erklärt John Harris, Präsident und CEO Nestlé Waters, bei der Jahreshauptversammlung. Pure Life wird in 25 Ländern der Welt verkauft, schmeckt überall gleich und ist das meistverkaufte Flaschenwasser der Welt.

Neue Märkte

Pakistan war für Nestlé der Testmarkt. Das Land hat 180 Millionen Einwohner, und allein in der Hauptstadt leben mehr als 10 Millionen Menschen. Bevor Nestlé mit Pure Life kam, gab es praktisch keinen Flaschenwasser-Markt. Heute dominiert Nestlé den boomenden Markt, den es selbst erschaffen hat.

Ahmad Rafay Alam, Rechtsanwalt am Lahore High Court und Universitätsdozent, ist besorgt: „Ich wuchs in einer Stadt auf, in der man einfach um ein Glas Wasser bitten konnte. Du bekamst es umsonst und musstet nicht fürchten, es sei verschmutzt. Was in den letzten 15 Jahren passierte, was ich selbst erlebt habe, ist die Verdrängung des normalen Trinkwassers, die Umwandlung von Trinkwasser in eine Ware. Ich sage nicht, Nestlé ist alleine verantwortlich, es gibt verschiedene Gründe. Nestlé tauchte auf, begann Pure Life anzubieten. Plötzlich erschien Coca Cola, Pepsi kam dazu, dann eine ganze Anzahl privater, lokaler Anbieter. Alle produzieren sauberes Wasser, weil die uralte Infrastruktur der öffentlichen Versorgung versagt. Und bevor es dir bewusst wird, zahlst du für ein Glas Wasser 15 Rupien. Unser Grundwasserspiegel fällt. Es gibt eine Vielzahl von Gründen dafür, dass er sich nicht mehr erneuert. Deshalb beginnen wir die Brunnen tiefer und tiefer zu graben, um an Trinkwasser für Lahore zu kommen. Der Zeitpunkt wird kommen, da das Wasser ausgeht. Ich sorge mich auch um das Abwasser- und Trinkwassersystem. Die Leitungen sind mindestens 30 Jahre alt. Vielerorts in der Stadt brechen die Rohre, Trink- und Abwasser vermischen sich. Das verursacht alle Arten von Magen-Darm-Erkrankungen, das ganze Jahr hindurch.“

Mit der Positionierung der Marke Pure Life wurde die Oberschicht und höhere Mittelschicht angesprochen. Der Professor für Marketing Ehsan Ul Haque an der Universität LUMS Lahore bewundert die Marketing-Strategie von Nestlé: „Die Werbespots waren sehr interessant. Viel Betonung auf der Qualität des Wassers. Wasser, dem man trauen kann. Für viele Jugendliche war es modisch, mit Pure Life in der Hand herumzulaufen. Damit machten sie ein Statement über sich selbst. Es ging nicht nur um den Gebrauchsnutzen. Man markierte damit, dass man eine moderne Person ist, eine gesundheitsbewusste Person. Sie sind in ihrer Art die Trendsetter von Pakistan“, so der Professor.

Da Nestlé immer mehr Wasser benötigt und immer tiefere Brunnen bohrt, entzieht das Unternehmen der ärmeren Bevölkerung das Wasser, wie in Bhati Dilwan, wo die meisten ehemaligen Brunnen trocken liegen. „Unserer Meinung nach nimmt Nestlé uns unser Wasser weg. Nestlé installierte in der Fabrik einen eigenen Tiefbrunnen. Jetzt ist unser Wasser sehr dreckig. Der Wasserspiegel sank enorm tief. Früher war er bei 100 Fuß (etwa 30 Meter), jetzt ist er auf 300 bis 400 Fuß (100 bis 130 Meter) tief gesunken. Wir sind in großer Sorge“, so Umar Hayat, ehemaliger Gemeinderat Bhati Dilwan. Je tiefer gebohrt wird, desto besser das Wasser. Die Bewohner können keine so tiefen Brunnen bohren und müssen sich mit dem wenigen Wasser gleich unter der Oberfläche begnügen. Die Qualität ist allerdings schlecht und führt zu Krankheiten. „Das Wasser ist nicht trinkbar. Weder für Kinder noch für Erwachsene. Die Gefahr von Hepatitis und anderen Infektionskrankheiten ist groß. Wenn unser Dorf besseres Wasser hätte, wäre unsere Gesundheit besser. Die Krankheiten würden aufhören“, erklärt Muhamad Shamun Dagar, Gewerkschaftsvorstand der Nestlé-Arbeiter.

Die Anwohner haben sich mit einer Petition an Nestlé gewandt, um auch von dem tiefer gelegenen Wasser zu partizipieren. „Wir möchten, dass Nestlé uns einen Tiefbrunnen bohrt. Oder zumindest eine Wasserleitung durch die Fabrikmauer hindurchzieht, mit einer Abfüllstation für die Dorfbevölkerung. Das wäre eine kleine Geste“, hoffte Umar Hayat. Doch Nestlé hat abgelehnt.

Nestlé schreibt sich Sozialverantwortung auf die Fahnen und will ein guter Nachbar sein? Die Verantwortung gibt der Konzern lieber den Regierungen und anderen Wasserverbrauchern. Seinen Durst nach Wasser relativiert er: Es gebe doch mehr als genug. „Vergessen Sie nicht, dass Flaschenwasser ein relativ kleines Geschäft ist. Es ist ein Tropfen im Ozean. … All das Wasser, welches Nestlé verkauft, macht nur 0,0009 Prozent des Süßwassers aus, das die gesamte Menschheit braucht“, so Brabeck-Lemathe, Verwaltungspräsident von Nestlé. Unter Protesten sprach er auch auf dem 6. Internationalen Menschenrechtsforum und erklärte: „Einfach zu sagen, Wasser ist ein Menschenrecht, ist vielleicht etwas zu wenig. In Wirklichkeit ist nicht die Frage, ob Wasser ein Menschenrecht ist. Das ist es – ganz klar. Die Frage ist, ob und wie wir dieses Menschenrecht durchsetzen können. Wir müssen also nicht so sehr darüber nachdenken, ob Wasser ein Menschenrecht ist, wir müssen nachdenken, wie dieses Recht, das heißt der Zugang zu Wasser, im heutigen Leben dauerhaft gesichert werden kann. Und dazu sind unter anderem einige Grundprobleme zu lösen. Eines und das ist das Wichtigste: Wir müssen mehr für die Wasserinfrastruktur machen. Der zweite Punkt ist: Keine Wassersubventionen für Besitzer von Swimmingpools oder Golfplätze sowie keine Subventionen für Bio-Kraftstoffe aus extra dafür angebauten Pflanzen, wohl aber Subventionen für Wasser für die Ärmsten und die Natur. In der dritten Welt ist zu 96 Prozent die Trinkwasserversorgung in den Händen des Staates. Und das funktioniert nicht.

Was hat das mit Privatisierung zu tun? Warum wollen Sie nicht endlich mal von der Ideologie wegkommen und die Fakten erkennen? Das Problem ist nicht eine scheinbare Privatisierung, das Problem sind die fehlenden Investitionen, um eine gute Wasserversorgung aufzubauen. Während wir in der westlichen Welt ca. 30 Prozent Wasser durch die Wasserleitungen verlieren, gehen in der dritten Welt 60 bis 70 Prozent verloren. Das ist das Problem. Wer muss sich darum kümmern? Der Staat muss sich darum kümmern.“

Dieses Argument lässt Maude Barlow, Preisträgerin „Right Livelihood Award“ (Alternativer Nobelpreis) und Vorsitzende Council of Canadians, nicht gelten. „Es gibt keine einfachen kurzfristigen Lösungen. Auf jeden Fall liegt die Lösung nicht in einer unzureichenden oder korrupten Regierung in Verbindung mit einer transnationalen Unternehmung, die auf den eigenen Profit aus ist. Das ist die tödlichste aller Kombinationen. Unser Argument für die Weltbank heißt: Wenn ihr dort Geld für die Sicherung der Wasserversorgung bereitstellt, wo keine gute Regierungsführung vorhanden ist, dann lasst uns doch eine Agentur einrichten, die sich nach Leistungsprinzipien richtet, aber nicht auf Profit aus ist“, so Barlow.

Das Marketing-Konzept von Nestlé geht dennoch auf. Beim New York Marathon ist das Wasser Poland Spring der Sponsor und wird den Läufern gereicht. So ein Event unterstützt die Werbeaussage von reinem und sicherem Wasser: Was für Extremsportler gut ist, das ist auch gut für mich. Nestlé hat sogar einen direkten Vertriebsweg, einen Heim-Lieferservice, im Big Apple aufgebaut. Ein Anruf genügt, und schon bekommt der Kunde das Wasser von einem kleinen Poland-Spring-Lieferwagen angeliefert und vom Fahrer bis in die Wohnung gebracht. Einfacher gehtʼs nicht. Heute ist Poland Spring das meistverkaufte Wasser in New York und der wichtigste Absatzmarkt der Ostküste. Dabei könnten die New Yorker genauso mühelos das Wasser aus dem Hahn trinken, denn „die New Yorker trinken Flaschenwasser, obwohl sie das sauberste Wasser der Welt haben. Es kommt aus den Catskill-Bergen. Es ist vom saubersten, sichersten Wasser, das man trinken kann. Das ist nur Marketing. Wasser wurde plötzlich cool. Und sie verknüpften es mit Gesundheit. Sie sagten uns sogar, wir bräuchten davon acht Gläser pro Tag. Nur nebenbei – das stimmt gar nicht. Sie sagten, dass wir es immer bei uns tragen sollten. Ich sprach mit Jugendlichen. Die sagen, OK, ich versuche Sie zu verstehen. Wie komme ich aber von zu Hause zur Schule ohne Wasser? Das ist doch brillantes Marketing! Und so haben sie bisher Tonnen von Geld gemacht, und zwar indem sie uns im Grunde eine Lüge auftischen“, sagt Maude Barlow, Preisträgerin „Right Livelihood Award“ (Alternativer Nobelpreis) und Vorsitzende Council of Canadians.

Das Marketing ist brillant, und die Strategie funktioniert. Der Erfolg von Nestlé ist unbestritten und das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht. Geht Nestlé in manchen Bereichen wenig sozial vor und auch aggressiv, wenn es darum geht die eigenen Interessen zu schützen? Mag sein, aber letztlich ist Nestlé ein Unternehmen, und das Ziel eines Unternehmens ist, Profite zu erwirtschaften. Daneben hält sich Nestlé an die Gesetze und handelt im legalen Rahmen. Ein Markt besteht aber nur, wenn es eine Nachfrage gibt. Würde es die Wasserflaschen-Gesellschaft nicht geben, egal ob durch Marketing kreiert oder nicht, würde Nestlé auch nicht so viel Wasser verkaufen. Im Grunde ist nicht Nestlé das Problem, sondern die Bequemlichkeit und Unwissenheit der Konsumenten. Wäre der Endverbraucher kritischer und würde sich selbst sowie das Flaschenwasser hinterfragen, käme er wahrscheinlich zu dem Ergebnis, dass Hahnenwasser nicht schlechter ist als Flaschenwasser, dass auch Flaschenwasser nicht immer rein ist, dass es Filtrationssysteme gibt, die jedes Flaschenwasser übertreffen, und das eine BPA-freie Mehrwegflasche sicherer ist als eine handelsübliche Plastikflasche.

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